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Digital In Arbeit

Umdenken oder zerfallen

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Die Gefahr eines Zerfalls der ÖVP in ihre Bünde war nie so akut wie jetzt. Diese Gefahr kann nicht mit organisatorischen Maßnahmen allein gebannt werden, vielmehr ist ein Lernprozeß einzuleiten, der indessen nicht an Oberflächenproblemen hängen bleiben darf, sondern bis in die Wurzeln unserer politischen Existenz vordingen muß.

Dies ist um so notwendiger, als im geistigen Bereich, im Bereich der Noosphäre, gegenwärtig ein Evolutionsschub stattfindet, der eine Änderung unserer Denkstrukturen zur Folge haben wird.

Was unter einem stolchen Vorgang etwa zu verstehen ist, können wir von Werner Heißenberg erfahren, der über die Weiterentwicklung des theoretischen Gebäudes der Physik von der klassischen Physik zur Quantenphysik folgendes sagt:

„Alle wissenschaftliche Arbeit geschieht bewußt oder unbewußt auf der Grundlage einer philosophischen Einstellung, einer bestimmten Denkstruktur ... Ohne eine solche Einstellung könnten die Begriffe und die gedanklichen Verknüpfungen kaum den Grad von Klarheit und Eindeutigkeit erhalten, der für die naturwissenschaftliche Arbeit die Voraussetzung ist... Es kann aber im Fortschritt der Wissenschaft vorkommen, daß ein neuer Erfahrungsbereich nur dann voll verständlich wird, wenn die enorme Anstrengung gemacht wird, diesen Rahmen zu erweitern und die Struktur des Denkens selbst zu ändern.“

Ein „Umdenken“ dieser radikalen Art geht heute in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen vor sich. Nun wird es auch für den politischen und gesellschaftlichen Bereich gefordert Der ÖVP wird es, wenn sie als Partei überleben will, nicht erspart bleiben, die enorme Anstrengung zu machen, die dieses Umdenken erfordert. Sie hat dabei gegenüber den Sozialisten den Vorteil, daß sie ihre Wertstrukturen im wesentlichen beibehalten kann. Sie bekennt sich ja als „Integrationspartei“ und akzeptiert daher das Integrationsprinzip.

Wiederholen wir, was hierunter zu verstehen ist: Die Richtung des in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen schon vollzogenen „Um-denkens“ geht von der „Mengenlehre“ über die „Systemtheorie“ weiter zu einem „integralen“ oder „integra-tiven“ Denken. Die Stationen dieses Weges sind etwa folgende:

Die „Menge“ ist eine Zusammenfassung von Elementen mit gleichen essentiellen oder akzidentellen Eigenschaften. Die Mengenlehre beschäftigt sich also im wesentlichen mit Quantitäten.

Das „System“ dagegen ist der Zusammenhang von Einzelelementen zu einem Ganzen. Hier kommt es also neben den quantitativen Gegebenheiten wesentlich auf die Wechselwirkungen zwischen den Elementen des Systems an. Das Geflecht dieser Wechselwirkungen, also die „Struktur“ dieses Systems beziehungsweise dieses Ganzen, gewinnt hier die entscheidende Bedeutung. Während die „Menge“ ident ist mit der Summe ihrer Elemente, ist das System beziehungsweise das Ganze „mehr als die Summe seiner Teile“.

Das „integrative Denken“ beschränkt sich nun nicht auf die Analyse der strukturalen Gegebenheiten des Systems, sondern befaßt sich mit den Gesetzmäßigkeiten, die für die „Integration“ vorerst isolierter Elemente oder Einzelstrukturen zu größeren Komplexen, also zu größeren Ganzen bestimmend sind.

Ohne auf diesen Prozeß, der sich in der „Integration“ der Teilorganisationen der ÖVP zu der einen Partei widerspiegelt, im einzelnen einzugehen, sei ein Wesensmerkmal jedes wahrhaft kreativen Integrationsprozesses darin besonders betont, daß die Teilstrukturen oder Einzelelemente die zu dem neuen Ganzen integriert werden, in ihrer eigentümlichen Struktur und in ihrer Seinsweise nicht zerstört, sondern in den größeren Sinn- und Seinszusammenhang „integriert“ werden, ohne ihre eigene Integrität zu verlieren.

Der Evolutionsschub unserer Denkstruktur in der Richtung auf das integrale Denken ist zu einem Charakteristikum unserer Geschichtsstunde geworden. Denn es ist heute wohl allgemein anerkannt, daß das Uberleben des Homo sapiens auf dem „Raumschiff Erde“ nur durch globale Kooperation gesichert werden kann. Die „Eine Welt“ ist zur Existenzbedingung des Menschengeschlechts geworden. Die globale Integration ist also unausweichlich, und hiezu sind integrative Denkmodelle erforderlich.

Wenn die ÖVP diese Zeichen der Zeit zu deuten versteht, kann sie aus der Krise, die sie jetzt durchmacht, zu neuer Bedeutung emporsteigen.

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