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Wahre Veränderung kommt von innen

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Verzweifelte Eltern entführen ihre Tochter von einer Sekte: Was bewegt junge Menschen zur Abkehr von Zuhause? Es ist auch die Suche nach ganzheitlichen, auch innerlichen Erfahrungen.

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Verzweifelte Eltern entführen ihre Tochter von einer Sekte: Was bewegt junge Menschen zur Abkehr von Zuhause? Es ist auch die Suche nach ganzheitlichen, auch innerlichen Erfahrungen.

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Die Suche nach der Erfahrung neuer Wirklichkeiten hat offensichtlich begonnen, und zwar unter verschiedenen Namen: die einen sprechen von Bewußtseinserweiterung, die anderen vom Weg nach innen, was im menschlichen Bereich wohl die Entdeckung und selbständige Gestaltung der eigenen inneren Verstandes-, Gefühls- und Bewegungswirklichkeit bedeuten mag. Man spricht von Transformation (Fergueson, Bennett), Metaprogrammierung

(Lilly, Leary) und der Suche nach der Ganzheit des Selbst (Castane-da).

Gemeinsam ist diesen Bestrebungen die Erkenntnis, daß der Verstand nur einen begrenzten Teil der Wirklichkeit erfassen kann. Der Mensch hat Verstand, Gefühl und Motorik, ist aber nicht nur Verstand, Gefühl und Motorik.

Ein erweitertes Menschenbild und Wirklichkeitsverständnis ist die Grundlage für die Suche nach einem Selbst, das Körper und Geist verbindet und dem Bewußtsein, das diese Beziehung herstellt.

Für die alten esoterischen Schulen war die Fixierung auf begrenzte Realitätsbereiche das stärkste Hindernis der Entwicklung. Daher lag der Schwerpunkt der praktischen Übungen in analytischen und konzentrativen Meditationen.

Um die Welt neu wahrnehmen zu können, muß man sie zuerst „anhalten”. Dies bedeutet, daß der innere Dialog gestoppt, das endlose Abspielen unserer gedanklichen Schallplatten aufhören muß. Wir können vom Karussell der endlos sich drehenden Wahrnehmungsinterpretationen, die zum Großteil über Sozialisati-onsprozesse eingeübt wurden, nicht abspringen, solange es sich dreht. Wenn es daher gelingt, „die gewohnte Welt anzuhalten”, kann dies bereits zu einer Veränderung der Realität führen.

Die Erkenntnisse der modernen Physik und Biologie (Varela) scheinen die Lehren der alten Weisheitsschulen zu bestätigen. Eine der grundlegenden Thesen der von Planck, Bohr und Einstein begründeten Quantenmechanik besagt, daß das, was wir als materielle Realität wahrnehmen, in Wirklichkeit eine Konstruktion nach Maßgabe unserer Wahrnehmungen ist.

So stellt Toben fest, daß im Mikrokosmos alles miteinander verbunden ist, doch diese Verbindungen in normalen Bewußt-seinszuständen nicht wahrgenommen werden. Toben argumentiert weiter, daß sich nichts beobachten lasse, ohne daß sich damit das Objekt und der Beobachter selbst veränderten, und daß es möglich sei, daß nur das Denken an ein Objekt dieses und den Denkenden selbst verändere.

Die angewandte Essenz dieser nach dem Quanten-Prinzip formulierten Aussage: „Etwas zu wünschen verändert das Gewünschte”. Dies bedeutet, daß die Trennung zwischen Subjekt und Objekt überwunden werden muß. Ein Weg dazu ist die Meditation. Mystik und Kontemplation in neuem Licht?

Die Suche nach neuen Wirklichkeiten umfaßt mehrere Dimensionen. Exemplarisch soll die politische Dimension herausgegriffen werden. Wir kennen die „alte” Diskussion: Was soll man ändern, sich selbst oder die Gesellschaft?

Die Revolution ist die radikalste Form der gesellschaftlichen Veränderung. Die Frage ist die, ob sie erfolgreich sein kann, wenn Menschen ihre inneren automatisierten Reaktionsschemata beibehalten. Die Frage steht daher im Mittelpunkt, ob eine gesellschaftliche Weiterentwicklung ohne gleichzeitige Entwicklung der Individualität zielführend sein kann.

Vielleicht wird es in der Zukunft Versuche mit umgekehrten Vorzeichen geben: soziale Transformation als Folge persönlicher Transformation? Also: gesellschaftliche Entwicklung von innen heraus.

Marilyn Fergueson beschreibt diese mögliche Alternative als „sanfte Verschwörung” — wahrscheinlich in Analogie zu Teilbard de Chardins „Verschwörung der Liebe”, die als unorganisiertes und unkoordiniertes Netzwerk, das keiner politischen Programme und Manifeste bedarf, zur evolutionären gesellschaftlichen Weiterentwicklung führen kann.

Im Mittelpunkt dieses Paradigmas steht ein autonomes Individuum in einer dezentralisierten Gesellschaft.

Der partielle Rückzug in den eigenen Transformationsprozeß wird deshalb als unabdingbare Notwendigkeit für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse gesehen. Die Arbeit an sich selbst” — beispielsweise zentraler Begriff bei Bennett — ist deshalb nicht als eine Verleugnung der politischen und sozialen Realität zu sehen. Sie ist vielmehr als innere Bearbeitung der Alltagssituation durch Distanzierung von automatisierten Reaktionsroutinen zu verstehen. Damit wird die innere Arbeit an die äußere gebunden.

Eine ähnliche Seite schlägt Rudolf Bahro an. Er plädiert dafür, der Gesellschaftstheorie eine Entwicklungstheorie der menschlichen Individualität an die Seite zu stellen. Die menschliche Emanzipation (im Unterschied zur bloß politischen) ist für ihn „nichts anderes als die subjektive Seite der kommunistischen Bewegung”.

Er ist damit nicht weit entfernt von Marx, der im Annenkowbrief von 1846 schreibt: „Die soziale Entwicklung der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung.”

So ist die zunehmende Suche nach neuen Wirklichkeiten der Versuch, die Widersprüche in dieser Welt auf einer höheren Ebene aufzuheben. Die Mittel dazu werden einerseits in modernen Psy-cho-Techniken, andererseits in den Methoden alter esoterischer Schulen und religiösen Praktiken gesucht. Für die politische Dimension als eine unter mehreren Aspekten bedeutet dies, die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit als notwendige Voraussetzung für die Effektivität gesellschaftlicher Entwicklungsmodelle zu sehen.

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