6994061-1987_03_05.jpg
Digital In Arbeit

Weitsicht und Toleranz

Werbung
Werbung
Werbung

Uber die Rolle der Kirchen in der Vermittlung kultureller Werte“ - so lautet der Auftrag eines aus 25 marxistischen Wissenschaftlern bestehenden Teams der Agitpropabteilung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, an dessen Spitze der anerkannte Ästhet Denes Zoltai steht. Er, ehe-

maliger Lukäcs-Schüler, gehört in Ungarn zu jenen Denkern, die in den vergangenen 20 Jahren als unbeirrte Reformverfechter einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung des Erneuerungsprozesses geleistet haben.

Mit seinem Team ist er jetzt bestrebt, eine in den sozialistischen Staaten grundlegend neue und einzigartige Plattform auszuarbeiten, mit deren Hilfe eine weitere Annäherung zwischen Marxisten und Christen ermöglicht werden kann. Die ungarische Partei bezweckt keineswegs die Revision ihres ideologischen Standpunktes, ist jedoch an der Schaffung von Klarsicht im Geiste der Toleranz interessiert; insbesondere was ihre Position bezüglich

gesellschaftlicher und kultureller Werte angeht.

Die Grundlage dazu bildet die folgende Fragestellung: Wie soll der nach marxistischen Prinzipien zu unbedingtem irdischen Glück berufene Mensch sich behaupten, bewahren und verwirklichen können, wenn er in der Gesellschaft, in der er lebt, zunehmend Tendenzen ausgesetzt ist, die seine Desintegration fördern? Vor allem dann, wenn im Reformprozeß durch den Abbau des Zentralismus den Privatinteressen schrittweise sogar eine systemerhaltende Rolle eingeräumt wird.

Die vor kurzem noch so beispielhaft vom Staate dotierte Kultur mit all ihren für eine humane Gesellschaft unentbehrlichen Werten ist zunehmend zwischen zwei Fronten geraten: Einerseits läuft sie Gefahr, daß sich breite Bevölkerungsschichten mangels Zeit und Interesse von ihr abwenden, anderseits ist der sich verstärkt auf das wirtschaftliche Wohl konzentrierende Staat

immer weniger imstande, ihr jene Dotationen zukommen zu lassen, durch die sie wenigstens ihre preismäßige Attraktivität bewahren könnte.

Da sind die immer leerer werdenden Kulturhäuser der Dörfer, für deren wirkungsvolle Ausgestaltung auch jene finanziellen Mittel fehlen, mit denen die Fachkräfte ihrer Ausbildung und Leistung entsprechend bezahlt werden könnten.

Inoffiziellen Untersuchungen zufolge werden jedoch vor allem in der Provinz von zahlreichen Jugendlichen Pfarrhäuser aufgesucht, in denen nicht einmal Religion das Hauptthema der Gespräche bildet, sondern Literatur, Musik und Philosophie.

Auch Marxisten zählen oft zu den Teilnehmern, die durch den Gedankenaustausch gerade mit jenen Werten konfrontiert sind, die im Alltagsleben der sozialistischen Konsumgesellschaft zunehmend in den Hintergrund geraten.

Eine der grundlegenden Fragen des Projektes, an dem die Wissenschaftler der Agitpropabteilung voraussichtlich fünf Jahre lang arbeiten werden, bezieht sich darauf, wie man Begegnungsforen schaffen und auch vielleicht institutionalisieren könne, ohne daß Weltanschauung oder staatliche Dominanz Hindernisse bilden.

Es geht hier um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, dessen verhängnisvolle Aspekte Ungarns Partei nunmehr endlich aus dem Weg räumen möchte. Die Partei scheint auch zu erkennen, daß der Reformprozeß nicht nur auf Gläubige, sondern auch auf Werte, die in diesem Glauben gesellschaftsrelevant fortleben, nicht verzichten kann.

Allerdings sind auch Ungarns Kirchen von dieser Erkenntnis in Zukunft herausgefordert — zumal sie die Auswüchse der Entwicklung einer ungarischen Konsumgesellschaft deutlich zu spüren bekommen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung