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Wir sehen die Bedrohung der Existenz

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Der FURCHE ist in'diesen Tagen auf verschlungenen Wegen ein Manifest von 59 polnischen Persönlichkeiten zugegangen, das als Brief an den Vorsitzenden des Sejm (des polnischen Parlaments), gerichtet ist und auch dem Staatsrat und dem Primas von Polen zugeleitet wurde.Unter den Unterzeichnern findet sich der Philosoph und Publizist Professor Leszek Kolakowsi, der international renommierte Plakatgraphiker, Zeichner und Bühnenbildner Eryk Lipinski und der bis 1959 als Präsident des polnischen Schriftstellerverbandes fungierende Antoni Slonimski neben zahlreichen Naturwissenschaftlern, Autoren und Künstlern.Wir bringen das sensationelle Dokument im vollen authentischen Wortlaut.

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Der FURCHE ist in'diesen Tagen auf verschlungenen Wegen ein Manifest von 59 polnischen Persönlichkeiten zugegangen, das als Brief an den Vorsitzenden des Sejm (des polnischen Parlaments), gerichtet ist und auch dem Staatsrat und dem Primas von Polen zugeleitet wurde.Unter den Unterzeichnern findet sich der Philosoph und Publizist Professor Leszek Kolakowsi, der international renommierte Plakatgraphiker, Zeichner und Bühnenbildner Eryk Lipinski und der bis 1959 als Präsident des polnischen Schriftstellerverbandes fungierende Antoni Slonimski neben zahlreichen Naturwissenschaftlern, Autoren und Künstlern.Wir bringen das sensationelle Dokument im vollen authentischen Wortlaut.

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„Den Beschlüssen des siebenten Kongresses der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei zufolge, ist eine Änderung unserer Verfassung zu erwarten. Gemäß den Beschlüssen der Konferenz von Helsinki, in deren Folge die polnische Regierung, in Übereinstimmung mit den 34 weiteren vertragsunterzeichnenden Regierungen, sich feierlich zur allgemeinen Charta der Menschenrechte bekannt hat, sind wir der Ansicht, daß die Einführung der in dieser Charta geforderten Grundrechte und Freiheiten dem Beginn eines neuen Abschnittes in der Geschichte der Nationen sowohl, wie der einzelnen Menschen gleichkommt. Unserer staatsbürgerlichen Verantwortung bewußt, sind wir der Ansicht, daß die künftige Verfassung und die Gesetzgebung unseres Staates, die daraus abzuleiten ist, in erster Linie die folgenden staatsbürgerlichen Rechte zu garantieren hätte:

Diese Freiheiten existieren solange nicht, als Staatsbürger, die sich als gläubig bekennen oder eine Weltanschauung vertreten, 4ie von der in unserem Lande offiziellen abweicht, zu einem wesentlichen Teil von leitenden Posten in den Ämtern, den öffentlichen Institutionen, den sozialen Organisationen und der Wirtschaft ausgeschlossen sind. Deshalb sind allen Staatsbürgern, ohne Rücksicht auf deren religiöses Bekenntnis, deren Weltanschauung, politische Uberzeugung oder Parteizugehörigkeit, gleiche Chancen zur Erlangung staatlicher Positionen einzuräumen. Was hier allein zu entscheiden hätte, wären: die persönliche Qualifikation, das Talent, die In-' tegrität. Es ist ferner allen religiösen Gruppen das Recht zuzugestehen, ihre Religion frei auszuüben und Gotteshäuser zu errichten.

Diese Freiheit existiert solange nicht, als der Staat alleiniger Arbeitgeber ist und die Gewerkschaften der Partei unterstehen, die in Wahrheit alle Macht im Staate innehat. Wie die Erfahrung der Jahre 1956 und 1970 lehrt, führen unter diesen Umständen alle Versuche der Arbeitnehmer, ihre Interessen wahrzunehmen, zu Blutvergießen und schweren öffentlichen Unruhen. Deshalb ist den Arbeitnehmern das Recht zuzugestehen, ihre Vertreter frei zu wählen, in voller Unabhängigkeit von irgendwelchen Organen des Staates oder der Partei. Das Streikrecht ist zu garantieren.

Wo keine Freiheit des Wortes, dort auch keine freie Entwicklung der nationalen Kultur. Solange alle Publikationen einer staat-, liehen Vorzensur unterworfen und die Verlagshäuser, ebenso wie die Redaktionen der anderen Medien, vom Staat kontrolliert sind, ist es den Staatsbürgern unmöglich, frei und in voller Verantwortung zu den Entscheidungen der Staatsgewalt Stellung zu nehmen. Anderseits weiß unter solchen Umständen die Staatsgewalt nicht, wie der Staatsbürger Regierungsentscheidungen beurteilt und wie er auf sie reagieren wird. Besonders schwerwiegend sind die Folgen eines solchen Staatsmonopols im Bereich der Publizistik (um von der Vorzensur zu schweigen), auf den Gebieten der Kultur und der Kunst, die nicht mehr imstande sind, ihre soziale Funktion zu erfüllen. Um dies zu vermeiden, ist allen schöpferisch Tätigen, aber auch den religiösen Gruppen ebenso wie den Standesorganisationen, vor allem der Journalisten, die Möglichkeit einzuräumen, Verlagshäuser zu gründen und vom Staate unabhängige Zeitschriften herauszugeben. Nicht weniger wichtig ist es, die Vorzensur zu liquidieren und Verstöße gegen die Pressegesetze einzig und allein auf legalem Wege vor den öffentlichen Gerichten zu ahnden.

Die Freiheit der Wissenschaften und der Forschung ist solange unterbunden, als die personale Auswahr der Wissenschaftler und die Auswahl der Forschungsaufträge von den staatlichen Stellen gehandhabt wird und solange bei dieser Auswahl politische Kriterien ausschlaggebend sind. Die Autonomie der Universitäten ist daher wieder herzustellen, die Wissenschaft muß ihre Freiheit wiedererlangen.

Die Garantie dieser Grundfreiheiten steht im Widerspruch mit dem Monopol der Partei innerhalb' des staatlichen Machtapparates, einem Monopol, das heute de facto besteht. Die neuerliche Anerkennung dieses Monopols durch die zu reformierende Verfassung würde der Partei die Stellung eines staatlichen Organs garantieren, das der Gesellschaft weder verantwortlich Ist, noch von dieser kontrolliert werden kann. In diesem Falle ist auch das Parlament nicht mehr als höchste Instanz der staatlichen Macht anzusehen und die Regierung ist nichts als ein oberstes Exekutivorgan der Partei. Von einer Unabhängigkeit der Gerichte kann selbstverständlich genau so wenig die Rede sein. Demgegenüber wäre das Recht aller Staatsbürger zu garantieren, ihre Mandatare nach freiem Ermessen vorzuschlagen und zu wählen, und dies selbstverständlich in freien, geheimen, allgemeinen Wahlen, bei denen jede abgegebene Stimme gleichberechtigt ist. Ebenso wäre die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber Regierung und Parlament in der Verfassung festzuhalten. Wir sind der Meinung, daß die Mißachtung der staatsbürgerlichen Freiheiten zur Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, zur Vernichtung des nationalen Gewissens und zum Bruch mit allen unseren Traditionen führen muß. Hierin sehen wir die wahre Bedrohung der Existenz unseres Volkes.“

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