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Soziologie der Philosophiegeschichte

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Erst Spruch und Widerspruch vermögen den wahren Wert eines Werkes zu klären. Professor Dempf hat in jahrelanger Arbeit ein Buch reifen lassen und herausgegeben, dem es weder an begeisterter Begrüßung noch an scharfer Kritik gefehlt hat und es ist darin kein Unglück zu sehen; der geschätzte Verfasser der „Selbstkritik der Philosophie” wird es am allerwenigsten tun. Er bezeichnet ja sein Unterfangen selber als „kühn”, ja als „überkühn”; daß er sich der offenbar erwarteten Kritik widersetzt, verspricht sein Vorwort. Am Widerspruch klettert ja der Gedanke empor.

Es ist wohl vor Augen zu halten, was Dempf eigentlich will und man darf beim Lesen des nicht leicht lesbaren Buches die Intention des Verfassers keinen Moment sich entschwinden lassen. Es handelt sich weder um eine Reform der Philosophie — Dempf weiß schon, wo die Metaphysik zu Hause ist — noch viel weniger gar um eine Reform der Theologie, das wäre nicht Sache des Philosophen, sondern um einen versuchten Fortschritt in der Entwicklung des philosophischen Gedankens aus der Schau soziologischer Verknüpfung, wie sie dem vergleichenden Philosophiehistoriker angesichts der Überfülle von Meinungen im Laufe der Jahrhunderte möglich geworden scheint. Es handelt sich um eine Soziologie des gesamten konstruktiv-kritischen Vernunftwissens, die nach Erläuterung und Vergleichung der faktischen philosophischen Richtungen und Philosophiestile (inhaltlich gefaßt) sich geradezu aufdrängt. Der verdienstvolle Autor 9etzt an einer Stelle des Forschens an, wo viele vor ihm oft und oft gestanden sind, aber ohne systematisch weiter zu bohren, vielleicht aus Erkenntnis der wahren Schwierigkeiten des Unternehmens überhaupt, vielleicht auch aus Angst, sich zu verlieren im Labyrinth der Meinungen, aus dem nicht so leicht ein roter Faden wieder den Weg zurück weist. Wer mit Philosophiegeschichte sich je abgegeben, kann sich der Feststellung nicht entziehen, daß der Grundstock der philosophischen Gedanken sich im großen und ganzen immer wiederholt, daß sogar die Art und Weise des Vorgebrachten einem gewissen Rhythmus unterworfen ist: Werden, Wachsen, Reifen und Verfallen der Systeme folgen eigenartigen Jahrhundertringen, wobei die menschliche Vernunft, die Philosophie katexochen, in der Beschränktheit ihrer Natur immer wieder ansetzt zu jener „ewigen Wiederkehr”, die dem Kundigen in gewissen Grundlinien schaubar wird und die selbst der Wirrwarr des vorhandenen Materials an Philosophen und Philosophemen nicht völlig zu verdecken vermag. Dempf nimmt nun die 13 Fälle (ob es nicht streng genommen bloß ein Dutzend sind?) einer normalen Entwicklung mit sechs theologisch, zwei bürgerlich und fünf juristisch bestimmten Stiltypen (nach Dempfs Aufzählung) und macht sie zur gesamten empirischen Grundlage für die Philosophievergleichung. Zu beachten ist, daß es sich um eine empirische Basis handelt und nicht um eine axiologisdie, daß das Problem rein soziologisch-philosophisch gestellt ist, daß infolgedessen selbst die religiöen Erscheinungen der Menschheit zunächst von diesem „erfahrbaren” Standpunkt aus in den Betrachtbereich hineingenommen sind. Es handelt sich deshalb, meines Erachtens, keineswegs um eine Re- lativisierung aller Religionen, jedenfalls liegt dieser Gedanke dem Verfasser, der selbst in der Öffentlichkeit genügend Zeugnis für seine religiöse Stellung abgelegt, völlig ferne. Soziologisch muß nun einmal mit der Existenz verschiedenster Religionsformen gerechnet werden. Es sei nicht geleugnet, daß gewisse Ausdrücke den Gedanken der relativistischen Gefahr nahelegen möchten; sie sind aber, wie eingangs bemerkt wurde, an der Gesamtintention des Verfassers zu korrigieren. In dieser Sicht zweifle ich keinen Augenblick, daß auch die Worte vom „Sprung zur Religion hinüber” (p. 130) im wohlwollenden Sinne zu verstehen sind. Die Berufung auf Kierkegaard, dessen „Folgen” gerade Dempf auch auf dem strittigen Gebiet aufgewiesen, zeigt, daß der Begriff der „rationalen” Theologie — der natürlichen Gotteslehre — nicht außer acht gelassen wurde. Und sie bildet tatsächlich mit ihren präambulanten Quadern die Brücke zur übernatürlichen Theologie. Aus dem gleichen Grunde wäre es doch nicht ganz gerechtfertigt, dem Verfasser eine Zuweisung der Religion an die bloße Gefühlswelt zur Last zu legen. Daß diese bei der philosophischen Mystik, gerade außerhalb des hütenden und sargenden Magisteriums, eine überbetonte und zu Gefährlichkeiten aller Art neigende Rolle gespielt, ist unleugbare Tatsache und gjehört fast zwangsläufig zur von Dempf aufgezeigten Entwicklungsperiodik, sie folgte den rationalistisch überspitzten Zeiten wie der Sdiatten dem Herrn. Selbstverständlich wäre es ganz und gar gefehlt, das Christentum rein evolutionistisch erklären zu wollen. Die göttliche Offenbarung ist über alles Relative hinaus das rettende Geschenk des Absoluten an die suchende, irrende und nach Heilung verlangende Menschheit. Es ist unendlich wichtig, dies festzuhalten angesichts der wogenden Problematik in der Philosophiegeschichte. Wer bei der „Kritik der Philosophie” nicht genau zusieht und ständig das Objectum formale quo des Verfassers genügend vor Augen hält, könnte — ich gestehe es zögernd zu —, durch gewisse Ausdrücke verwirrt, durch die krause Fülle des Gebotenen verängstigt, ganz wider den Willen des Verfassers zu gefahrvoller Bodenverlie- rung kommen. Man kann und soll aber Philosophiegeschichte, auch die „Selbstkritik der Philosophie”, so sehen, wie sie wirklich gemeint ist. Die Notwendigkeit und Naturgemäßheit und nicht zuletzt die anbetungswürdige Herrlichkeit und Größe der göttlichen Erbarmung in der geoffen- barten Wahrheit wird nur um so strahlender uns vor Augen treten, je mehr gezeigt wird, daß alles menschliche Suchen, auch das reSgiöse, alles menschliche Tasten und Probieren, in sich zusammenbricht, sich zu Tode läuft und dadurch eine nur vorbereitende Rolle in der ganzen Heilsteleologie der Weltvorsehung spielt. Ob dieser Gedanke nicht kräftiger noch, als er angedeutet, hätte herausgearbeitet werden sollen?

Die altchristliche Zweinaturenlehre, der Anton Günther (1783 bis 1863) nahestand — der Mensch bestehe aus zwei Naturen in einer Person —, scheint in Dempf wieder einen Fürsprecher gefunden zu haben, wohl auf Grund der Väterliteratur und einiger Moderner. Ich vermag ihm hierin nicht zu folgen. Thomas von Aquin hat mit Recht die Einzigkeit der substanzialen Form gelehrt und sie entspricht heute noch meines Erachtens, der kompositionel- len Einheit des Menschen konsequenter und besser. Es gilt eben nicht nur die Verschiedenheit des Leiblichen und Geistigen zu sehen, sondern auch die Einheit des Menschen zu wahren.

Ob der „allzu kühne” Plan, den Professor Dempf zu verwirklichen sich vorgenommen, gelungen ist? Zweifellos hat der Verfasser der „Selbstkritik” eine hochachtbare Leistung vollbracht. Sein Versuch einer vergleichenden Philosophiegeschichte, die er in großen konstruktiven Linien seinem Bucheals Anhang beigibt, ist ebenso anregend wie die daraufhin führende Kritik der Vernunft, sic ist richtungweisend und sicher sehr verdienstlich. Ich glaube indes nicht, daß damit in der angeschnittenen Frage bereits das letzte Wort gesprochen ist. Dempfs Werk steht vielleicht mehr an einem Anfang als an einem Ende. Die vielen Schemata, die den Gang des Gedankens veranschaulichen sollten, vermögen da nicht immer zur Gänze zu tun. Es haftet ihnen gelegentlich der Charakter dfs Gesuchten und des ad hoc Zurechtgemachten an, auch wenn man sie keineswegs statisch, sondern dynamisch, evolutionistisdi nimmt. Man darf bei aller Herausstellung des Gemeinsamen, des Periodischen, auch die originale Fülle und das Einmalige der menschlichen Persönlichkeit und ihres Werkes im gesamten nicht zu sehr in den Hintergrund drängen. Ich verstehe die Entdeckerfreude des Autors sehr gut, mit der er gefundenen Grundlinien der Vemunftbetätigung gleichsam mit dem Zeigefinger folgt. Aber er selber wird sich der Gefahr wohl bewußt sein, die gerade darin besteht, daß ihm diese „ziemlich neuartige und mir vielleicht schon allzu selbstverständlich gewordene Selbstkritik der Philosophie” (Vorwort) eben zu selbstverständlich ist. Schade auch, daß die Eigenart der Sprache, die Dempf benützt, die vielen gucgewillten Lesern und Denkern den Zugang zu seiner eigentlichen, keineswegs gering anzuschlagenden Denkleistung, nicht gerade leicht und allzu freundlich gestaltet.

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