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Die Wanderer des 20. Jahrhunderts

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Im 20. Jahrhundert ist Wanderschaft nicht Sache der Pioniere, wie im 16., sondern, ähnlich den Gruppenaustreibungen der Religionskriege, aber noch umfassender als diese, eine Frage auf Leben und Tod für die Massen.

Umsiedlung geschieht in unserem Jahrhundert nicht nur auf den Druck von staatlich organisierten ideologischen Kräften hin. Die Entscheidungen von Funktionären in den großen Wirtschaftsräumen, wie in dem Nordamerikas, verlagern ganze Industrien nach Marktgesichtspunkten. Damit werden in einer an sich schon fluktuierenden Gesellschaft von Wirtschaftsbürgern Wanderungen bedeutenden Ausmaßes hei vorgerufen. Der kleine Mann zieht dann von Stadt zu Stadt, bleibt drei Jahre hier, fünf Jahre dort, und die Wohnwagensiedlungen in den eigens dazu von den , Gemeindeverwaltungen eingerichteten Parkplätzen sind ein Symbol für eine sowohl wartende wie auch rollende Gesellschaft.

Einige der gewaltigen Wanderschaftsprozesse der neueren Zeit sind auch bereits historisch geworden und können im großen und ganzen in einer ersten Phase als abgeschlossen angesehen werden, was zur Beschreibung und Darstellung anreizt. Solche Prozesse haben Geschichte und Gesellschaft, an der sie zu studieren sind, nicht nur verändert, sondern geradezu geschaffen. Der die USA in verschiedenen Abschnitten konstituierende Einwandererstrom ist von den Amerikanern selbst nach mehreren Gesichtspunkten studiert worden.

Zuletzt hat die Universität von Pennsylvania, einem Zug der Zeit folgend, der die Sammlung und Bewahrung von Zeugnissen Lebender hoch wertet, eine Reihe von ehemaligen europäischen Intellektuellen, die sich während der letzten 30 Jahre in den Staaten angesiedelt und beheimatet haben, zu Selbstdarstellungen aufgefordert. Vier deutsche Wissenschaftler, die in den dreißiger Jahren zur Emigration gezwungen wurden, sowie ein französischer Literarhistoriker und Literat sind dieser Einladung gefolgt und haben auch über den Rundfunk zum Thema „Intellektuelle Wanderung“ („Cultural Migration““) gesprochen.

Als eine der Grundfragen stellte sich den Referenten die nach dem „idealen Emigranten“. Franz L. N e u m a n n, einer der Vortragenden, Professor für Staatswissenschaften an der Columbia-Universität von New York, definiert ihn als einen Menschen, der in einem unerhört schmerzvollen Prozeß die Ueberlieferungen selbst des Landes, das ihn ausgestoßen hat, weiterbildet und mit den Kräften verbindet, die ihm im neuen Land zur Verfügung stehen. Neumann hat tatsächlich an Leitlinien festgehalten, die von deutschen Sozialwissenschaftlern entwickelt wurden, aber auch Gedanken der amerikanischen Aufklärung ernst genommen und in sein wissenschaftliches Denken verarbeitet. So verlangt er die Wiederversöhnung von Theorie und Praxis und eine Art akademischer Allgemeinbildung, welche die in den Vereinigten Staaten bereits erreichte Verwirklichung der Erziehungsprinzipien Humboldts noch ausbauen soll. Sein Urteil über die amerikanischen Sozialwissenschaften ist positiv, weil er findet, daß die Forderungen des deutschen Soziologen Max Weber nach empirischen Untersuchungen, und nach Wissenschaftlern, die sich der ganzen Gesellschaft gegenüber als verantwortlich fühlen, in den USA gehört worden seien. Neumann schätzt auch die Unbefangenheit des Verkehrs zwischen Professor und Studenten und die Mühe, die sich der Professor mit jedem der bei ihm Studierenden nimmt. Er ist jedoch kritisch genug, um drei gefährliche Tendenzen zu sehen, die sich beim Uebergewicht der empirischen Forschung einstellen: durch die Unmittelbarkeit sozialwissenschaftlicher Bestandsaufnahmen könne man über die historische Tiefe der Probleme hinweggehen; die Beschäftigung mit quantitativen Ergebnissen in großem Ausmaß, deren Manipulation immer schwieriger wird, verwandelt den Gelehrten zum Funktionär; um großzügige Untersuchungen zu finanzieren, braucht man viel Geld, wodurch die Gefahr der Abhängigkeit von den Geldgebern drohe.

Paul T i 11 i c h, Professor für evangelische Theologie am Union Theological Seminary in New York, das zu den drei wichtigsten Zentren theologischer Arbeit in den USA zählt, kommt dem den Pragmatismus ernst nehmenden Neumann in einem Punkt sehr nahe: er kritisiert die Theologie des deutschen Luthertums der letzten 80 Jahre deswegen scharf, weil sie auf die Frage der Anwendung ihrer Lehrsätze gar nicht eingegangen sei. In den USA werde selbst der Theologen-Emigrant gezwungen, die Realitäten der Praxis und Erfahrung ernst zu nehmen. Dadurch, daß einerseits der Calvinismus das Drängen auf praktische Verwirklichung des „Himmelreiches“ mit der Ausbildung von mächtigen Kirchenorganisationen verknüpft und anderseits Sekten und verschiedene Erneuerungswellen radikaler Art die religiöse Erfahrung in den Vordergrund schoben, war die amerikanische Gesellschaft und auch deren Theologie auf „Pragmatismus“ und „Empirismus“ vorbereitet. Tillich glaubt, daß diese auf experimentelle Erfahrung hin gerichtete Gesinnung mit dem „amerikanischen Grundgefühl“ verbunden sei, daß man an der Peripherie des Wissens stehe und sich erst in den Besitz desselben setzen müsse; dies habe zu geschehen durch „inquiry“ (Anfrage), „investigation“ (Aufspürung), „research“ (Nachsuche), „pro-ject“ (Entwurf) — alles Worte, die wie die Termini „Entstehung“, „Prozeß“ und „Pro-greß“ als Grundbegriffe der intellektuellen Tradition Amerikas aufgefaßt werden können.

Der soziologisch interessanteste Beitrag zum Thema der Verpflanzung von Intellektuellen stammt von Erwin Panofsky, Kunsthistoriker und Ideengeschichtler an der Universität Princeton. Ihm fällt es auf, daß die amerikanische Universität, schon ihrer inneren Anlage nach, sich von der europäischen grundsätzlich unterscheidet. In Europa ist, Panofsky zufolge, die Hochschule (zumindest dem Ideale nach) immer noch eine Universitas magistrorum et scholarium, eine Körperschaft von Gelehrten, die von famuli umgeben sind. In den Vereinigten Staaten ist das College eine Körperschaft von Studenten, die einem Stab von Lehrern anvertraut sind. Dort empfängt der Lehrbetrieb der Universität, zu dessen Aufrechterhaltung die Studentenschaft durch Schulgelder und die ehemaligen Studenten durch Beiträge, Stipendien usw. zumindest in entscheidendem Maße beitragen, Impulse durch die materielle Kraft der Hörer, und Professoren werden ja auch kaum „berufen“, sondern meist nur „angestellt“. Damit ergibt sich auch eine striktere Form für „Wissensvermittlung“ und Prüfungen und — was Panofsky im Gegensatz zu Neumann grundsätzlich ablehnt — „allgemeinbildende“ Tendenzen. Panofsky sieht hinter ihnen das Gespenst einer mittelmäßigen Vollkommenheit, das die individuelle Erkenntnisinitiative des jungen Menschen erstickt.

Wolfgang Köhler, einer der führenden Köpfe der Gestaltungspsychologie im ersten Drittel dieses Jahrhunderts, hat sich in den Vereinigten Staaten weniger eingelebt als die anderen Herren, die sich an dem Rundgespräch der Universität von Pennsylvania beteiligten, nicht zuletzt deswegen, weil seine theoretischen Grundauffassungen im Widerspruch zu den herrschenden Lehrmeinungen stehen. Diese Art von Spannung hat manchen intellektuellen Emigranten nicht nur der amerikanischen Wissenschaft, sondern auch der amerikanischen Gesellschaft gegenüber in die Verteidigung gedrängt.

Professor Henri P e y r e, freiwilliger Emigrant aus Frankreich — als Protestant wuchs er schon in einer gewissen Distanz zu seiner Heimatgesellschaft auf —, ist Literaturhistoriker an der berühmten Yale University, der Zweitältesten der USA. Peyre stellt einen Mangel an wirklicher Dialektik an amerikanischen Hochschulen fest. Meinungsverschiedenheiten sind eine Seltenheit geworden, sagt er, und die Studentenzeitungen üben nur im Ausnahmsfall Kritik. „Agreeing to dis-agree“, sich mit der gegensätzlichen Meinung des anderen von vornherein abzufinden, mag eine Tugend im politischen Leben sein, die Diskussion der Ideen wird durch diesen Grundsatz jedoch unterbunden. Peyre kritisiert wie Panofsky den Institutionalismus in der Erziehung und Bildung. Fortschritt sehe man in der Richtung auf Erweiterung des Lehrmaterials, der „textbooks“. Durch die Vorlesungsverzeichnisse, die Bestimmungen, welche von den Uebungen belegt werden müssen, sagt Peyre. ist schwerer durchzukommen als durch die Relativitätstheorie.

Die von der Pennsylvania University einander gegenübergestellten Emigrantenstimmen sind nur ein kleiner Schritt zur Beleuchtung jenes Vermischungsprozesses, der sich während der letzten 40 Jahre in der intellektuellen Welt Amerikas abgespielt hat. Die Russen — man denkt an Sorokin und Timasheff —, die Oesterreicher: Schumpeter, Vögelin, Lazarsfeld, Haberler, Polanyi haben starke Wirkungen ausgeübt. Der Wiener Positivismus, die Wiener Nationalökonomie, die deutsche Soziologie der Scheler- und Weber-Nachfolge, das Bauhaus: das sind Strahlungszentren in den USA gewesen, deren Vermischung mit amerikanischen Traditionen der Analyse wert wäre. Es handelt sich hier um eine Europäisierung, die sich innerhalb von gesellschaftlichen Strukturen und intellektuellen Leitbildern vollzog, deren Ursprung und Grundlage jedoch im 20. Jahrhundert bereits amerikanisch war.

Allgemein ist zu sagen: die Emigration gibt Gelehrten und intellektuell schöpferischen Menschen die Grundlage zu schärferer Beobachtung und klarer Selbsteinschätzung. Die Chance besteht darin, daß der seinen Weg suchende Intellektuelle die Gehässigkeiten gegen das Land, das er verließ, wie gegen das, in dem er sich einzuleben sucht, überwindet und fruchtbar macht. Es scheint eine Lehre unseres Jahrhunderts zu sein, daß ohne die Bemeisterung der Spannungen im eigenen Herzen der Begriff der Einheit steril bleibt, oder in sein Gegenteil, die Gewalt, umschlägt. Der Wanderer des 20. Jahrhunderts ist als „viator“ (der Gegenpol zum Vagabunden) überall zu Hause, weil er in sich selbst Heimat hat. Dadurch erwirbt er sich in seiner Gesellschaft und Heimat erst das volle Bürgerrecht und kann, jeweils an konkretem Orte ansetzend, an der Idee mitwirken, welche die Philosophie schon nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges entwarf: die des gemeinsamen Weltverständnisses.

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