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Arithmetik der Weltpolitik

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Während im Palais de Luxemburg in tropischer Sommerhitze von 21 Staaten um Abstimmungsfragen gerungen wurde, wartete die ganze Welt ungeduldig auf das Werden der Friedensverträge und von mancher Seite wurde bezweifelt, ob der Kampf um Abstimmungsverfahren der Mühe wert wäre. Ist es nicht — sagten sich viele — viel wichtiger, rasch den Frieden zu bringen als wochenlang darüber zu debattieren, ob dazu einfache oder Zweidrittelmehrheit erforderlich ist? Fast scheinen diese Frager Recht zu haben und doch' liegt die ganze Abstimmungsfrage viel gewichtiger vor uns, als es eben den Anschein haben mag. Die Demokratisierung der ganzen Welt kann vor einem Staatenkongreß nicht haltmachen, der abzustimmen hat und daher eine Abstimmungsordnung zur Grundlage haben muß. Diese Abstimmungsordnung ist aber keine untergeordnete Verfahrensfrage und wer sie für eine solche hält, der hat keine zutreffende Vorstellung von den • Zahlen-verhälnissen, unter deren Zwang das Leben der Staatengemeinschaft, daher die ganze Weltpolitik ruht.

Die Staaten der Welt teilen sich in Zwergstaaten unter 100.000, in Kleinstaaten bis 10 Millionen, Mittelstaaten bis 30 Millionen, Großstaaten bis 100 Millionen und Weltmächte mit über 100 Millionen Einwohnern. Die Einreihung der Einzelstaaten in diese

Kategorien ist nicht ganz eindeutig, denn während zum Beispiel Frankreich in seine 105 Millionen alle Einwohner seiner außereuropäischen Besitzungen einbezieht, ist es fraglich, ob derselbe Vorgang zum Beispiel bei Belgien oder Holland anzuwenden sei. Ferner ist Staatensumme und Staaten-Stimmensumme nicht dasselbe, denn das Britische Weltreich hat in der Weltpolitik nicht eine, sondern acht, und Rußland nicht eine, sondern drei Stimmen, da die Dominions, beziehungsweise einige Sowjetrepubliken selbständige Stimmen besitzen.

Es gibt nun derzeit 5 Weltmächte (nach Stimmen 6) mit rund 1400 Millionen, (j (7) Großmächte mit 308 Millionen, 13 (15) Mittelmächte mit 214 Millionen, 40 (50) Kleinstaaten mit 110 Millionen und 7 Zwergstaaten mit etwa 600.000 Einwohnern, zusammen: 85 Staaten (einschließlich Zwergstaaten) mit zusammen rund 2032 Millionen Einwohnern. Nehmen wir nun an, es besitzen alle diese Staaten — wie es die Zukunft als Endziel in den UN anstrebt — das Stimmrecht, so ergäbe sich bei einer Abstimmung als die einfache Mehrheit 43 und als die Zweidrittelmehrheit 57. Nach Einwohnern ausgedrückt würde die einfache Mehrheit 1016 und die Zweidrittelmehrheit 1354 Millionen ausmachen. Das ist das grobe Bild von der Staatengemeinschaft, wie sie augenblicklich vor uns steht und dieses ziffernmäßige Bild ermöglicht es ohneweiters, die Probleme einer Abstimmung der vollzähligen UN-Versammlung abzuwägen.

Da die Kleinstaaten allein mindestens über 40 Stimmen verfügen, so brauchten nur noch 3 andere Staaten mitzustimmen, um Entscheidungen mit einfacher Mehrheit herbeizuführen. Diese 40 Kleinstaaten mit zum Beispiel 3 Mittelstaaten repräsentieren aber nur etwa 130 Millionen Menschen, die über lie anderen rund 1900 Millionen bestimmen könnten. Eine Zweidrittelmehrheit wäre erzielbar durch einen Zusammenschluß aller Klein- und Mittelstaaten und Hinzutritt von 4 Großmächten, die alle gemeinsam etwa 460 Millionen vertreten würden, die also den übrigen' rund 1600 Millionen diktieren könnten. Mögen dies auch nur abstrakte Fälle sein, die sich in Wirklichkeit kaum ergeben dürften, so zeigt doch diese rein theoretische Berechnung, was für Möglichkeiten das auf die Staatengemeinschaft angewendete Abstimmungsverfahren in sich birgt. Ein Korrektiv wäre denkbar, wenn zur einfachen, beziehungsweise zur qualifizierten Mehrheit nicht die Staatenstimmen, sondern 1016, beziehungsweise 1354 Millionen Menschen — vertreten durch Einzelstaaten — gefordert werden würden. In diesem Falle müßte bei Abstimmungen ein wohlerdachtes Berechnungsverfahren stattfinden, das heißt es müßte solange um einzelne Staatenstimmen geworben werden, bis eben die 1016 oder 1354 Millionen Menschen erreicht sind. Man kann sich leicht vorstellen, in welchem Grade eine Politik hinter den Kulissen aufleben würde, um die gewollten Abstimmungsergebnisse zu erzielen .

Zwischen einer Abstimmung in den Parlamenten der Einzelstaaten und einer Abstimmung in einem Weltparlament oder auf großen Staatenkongressen gibt es offenbar sehr wesentliche Unterschiede. Im Einzelstaat repräsentiert jeder Abgeordnete bei demokratischem Wahlrecht die gleiche Summe von Wählern, so daß sich alle Abgeordnetenstimmen einander an Gewicht gleichen und hinter jedem Bruchteil aller Abgeordneten der entsprechende Bruchteil aller Wähler steht. Ganz anders in der Staatenwelt, in der sich das Britische Weltreich mit fast 500 Millionen Menschen und die Republik Costa Rica mit 500.000 oder gar Andorra mit 6000 Menschen gegenüberstehen. Es leuchtet ohneweiters ein, daß so heterogene Elemente wie Weltmächte und Zwergstaaten, doch auch Großmächte und Kleinstaaten nicht gleichgestellt werden können, indem jeder Staat schematisch eine Stimme erhält. Aus allen diesen Erwägungen geht klar hervor, daß es bei Abstimmungen in der Staatengemeinschaft Kautelen geben muß, die es verhindern, daß trotz Stimmenmehrheit die Minderheit über die Mehrheit entscheidet oder auch nur entscheiden könnte. Der Kampf um das Abstimmungsverfahren unter den Staaten hatte somit seine vollste Berechtigung und er darf nicht bloß als eine überflüssige Auseinandersetzung über nebensächliche Formalitäten betrachtet werden.

Bisher hat es sich bereits eingebürgert, daß die „Großen Vier“ oder die „Großen Fünf“ in wichtigen Fragen der Weltpolitik das ausschließliche oder doch vorwiegende Entscheidungsrecht besitzen und es auch tatsächlich ausüben. Die „Großen Vier“: das Britische Weltreich, die Sowjetunion, die USA und Frankreich vertreten zusammen über 900 Millionen Menschen, durch China zu den „Großen Fünf“ ergänzt, rund 1400 Millionen Menschen, das heißt die „Großen Fünf“ stellen nach vertretenen Menschen die Zweidrittelmehrheit dar; niemand wird leugnen dürfen, daß diesen fünf Weltmächten auch eine entscheidende Stimme im Weltparlament zukommen muß.

Durch das bestehende Vetorecht der Weltmächte ist eine sichere Gewähr gegeben, daß alle gefaßten Beschlüsse tatsächlich von allen Weltmächten gefaßt und daß sich keine Beschlüsse gegen eine einzelne Weltmacht richten. Da ferner die fünf Weltmächte nicht nur zwei Drittel der Menschheit vertreten, sondern auch alle fünf Erdteile umspannen, alle in diesen vorkommende Rassen und Bekenntnisse, Regierungs- und Wirtschaftsformen, daher Weiße, Gelbe, Schwarze, Christen, Mohammedaner, Hinduisten, Buddhisten, Monarchien, Republiken, Kapitalismus und Kommunismus umfassen, kommt ihren Beschlüssen eine von allen Staaten anzuerkennende Wirkungskraft zu.

Freilich muß zugegeben werden, daß die dauernde Majorisierung der außerhalb der Weltmächte stehenden Minderheiten keinen Idealzustand darstellt, denn die Unterwerfung dieser Minderheiten ist eine fast vollständige und die Freiheit wird dadurch in vielen

Teilen der Erde zu einer recht bedingten. Die Vorherrschaft der Weltmädite muß deshalb eine unerläßliche Voraussetzung erfüllen, daß nämlich die Minderheiten nicht Willkür, Unrecht und Benachteiligungen ausgesetzt sind, die als unerträglich empfunden werden. Die Weltmächte müssen ihre Vollmachten weise gebrauchen, nur so werden sie segensreich wirken. Wie aber die Minderheiten vieles hinnehmen müssen, um in der Weltgemeinschaft friedlich leben zu können, so müssen auch die Weltmächte untereinander Konzession auf Konzession machen, um zu einstimmigen Entschlüssen zu gelangen: in Wirklichkeit ist daher niemand frei, rede rd er Großen och derKleine und das ist überhaupt das Geheimnis des Zusammenlebens ijeder Gemeinschaft, angefangen von der kleinsten Familie und- dem unscheinbarsten Verein. Gemeinsamer Frieden ist nur durch ständige gemeinsame Verzichte erzielbar, auf der einen Seite außerdem durch die disziplinierte Anerkennung der Mehrheit, auf der anderen Seite außerdem durch die Pflichtige Achtung der Rechte jener, die in der Minderheit, deshalb aber hinsichtlich der elementaren Lebensrechte niemals minderberechtigt sind.

Wenn wir also darüber ins Reine gekommen sind, daß der Preis für den Frieden nur im Verzicht aller auf gewisse Forderungen liegen kann, dann ist das System zu bejahen, nach welchem die fünf Weltmächte in Gerechtigkeit und in Voraus-sidit das Wort führen, nach welchem sie untereinander Kompromisse eingehen und nach welchem die Minderheiten verständnisvoll die natürliche Weltordnung respektieren, die nicht in geistloser Gleichheit, nicht in egalen Staaten sondern in bewundernswerter Vielfalt, daher auch in sehr unterschiedlichen Staatengebilden besteht.

Ein solcher Zustand, wie er unserem Zeitalter auferlegt ist, bleibt auf die Dauer nur erträglich, wenn fürdie Minderheiten in der Staatenwelt eine unter allen Umständen garantierte Meinungsfreiheit besteht, die es ihnen gestattet, ihre Stimme furchtlos, laut und vernehmlich zu ' erheben, ihre berechtigten Klagen ungehindert vorzubringen und die Weltmeinung auch in ihrem Sinne zu beeinflussen, ohne Gefahr zu laufen, von der Majorität dafür bestraft, terrorisiert und ' vergewaltigt zu werden. Wäre dem nicht so, dann müßte das ganze Vorherrschaftssystem der Weltmächte mit der Zeit unweigerlich ausgehöhlt werden. Der .Frieden stellt dieserart weniger das Ergebnis eines scharfsinnig ausgeklügelten Mechanismus einer Weltorganisation als der tunlichst langen Einmütigkeit der Weltmächte dar.

Die Demokratie der Staatengemeinschaft sieht anders aus als die Demokratie innerhalb eines Staates, dessen ist man sich noch nicht recht bewußt geworden. Erfaßt aber einmal diese Erkenntnis weitere Kreise, dann wird der Frieden auf weitaus sicherer Grundlage gebaut und erhalten werden können, als es bisher möglich war.

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