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Schatten über Frankreich

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Die langandauernde Regierungskrise in Frankreich, die sich zu einer Krise des Regimes auswuchs, zeigte deutliche Reaktionen in allen Teilen der Nation. Dazu kommt noch, daß die sozialen Spannungen zunehmen, obgleich die Ferien eine geschlossene Aktion der Arbeiterklasse nicht zulassen; Es darf jedoch angenommen werden, daß Frankreich vor schweren Erschütterungen steht, wenn es nicht einer entschlossenen Regierung gelingt, während der Sommermonate entscheidende wirtschaftliche und soziale Reformen durchzuführen.

Besonders die Gewerkschaften, die seit Jahren eine bemerksenwerte Reserve

gezeigt haben, beginnen energisch Forderungen zu. stellen. Die beiden größten Gewerkschaftszentren: CGT (links) und CFTC (christlich), hielten in den letzten Monaten ihre Kongresse ab, um die Positionen zu definieren und die Arbeiterschaft, die ihnen teilweise entglitten ist, wieder in gewerkschaftliche Disziplinen zu organisieren.

Das Gewerkschaftswesen in Frankreich blickt auf eine lange Tradition, auf eine Reihe bedeutender Köpfe zurück. Allerdings konnte sie das reiche geistige Erbe nicht bewahren und vor allem den Gegebenheiten der Gegenwart nicht entsprechend anpassen. Der Anarchosyndikalismus, geprägt von Proudhon und Sorel, findet seine letzten

Auswirkungen in den Abhandlungen von Lagardelle; einige unabhängige kleinere Gewerkschaften bekennen sich noch zu diesem Gedankengut. Der Marxismus mit seinett beiden Zweigen, Maximalismus und Minimalismus, läßt sich über Cachin und Franchon fortführen und findet seine eindeutige Vertretung in der CGT, während Jouhaux das Gedankengut Jaures in der CGT-FO zu bewahren trachtet. Die christlichen Gewerkschaften stehen derzeit ebenfalls in einer geistigen Auseinandersetzung, die noch keinen Abschluß gefunden hat. Die c h r i s t- 1 lieh'sozialen Ideen stehen jedoch nach wie vor im Vordergrund des Programmes.

Das französische Gewerkschaftswesen, mit Ausnahme der CGC (Confderation Generale des Cadres), ist gegenwärtig sehr politisiert. Auch die christliche CFTC mißt der politischen Erziehung der Arbeiterklasse große Bedeutung zu. Sie hat zu diesem Zweck eine Art eigene Universität gegründet, lehnt jedoch eine Bindung an eine Partei, auch an das MRP, ab. Die CGT dagegen bleibt das ausschließliche Kampforgan der Kommunistischen Partei. CGT-FO gilt als eine Ausdrucksform der sozialistischen Partei.

Es ist sehr schwer, sich über die zahlenmäßigen Kräfte der einzelnen Gewerkschaften ein genaues Bild zu machen. Am' besten wird es sein, die Ergebnisse der Wahlen in den Vertretungskörpern der sozialen Versicherungsinstitute heranzuziehen. Wir gewinnen damit, abgerundet, folgendes Bild: CGT (komm.) 2,300.000, CFTC (christl.) 1,600.000, FO (soz.) 800.000, Unabhängige und andere 1,000.000 (Stand 1952).

Nach wie vor kann sich die kommunistische CGT als die stärkste Zentrale behaupten, ohne jedoch jenen Einfluß auszuüben, der sie 1945 bis 1948 zu einem Staat im Staate machte. Sie beharrt auf der intran-sigenten Formel des Klassenkampfes. Letztes und absolutes Ziel ist die Beseitigung des derzeitigen Wirtschaftssystems durch die Kollektivisierung der Produktionsmittel. Einige ihrer anerkannten Chefs, wie Le Leap, wurden, unter Anklage, die Staatssicherheit zu gefährden, verhaftet, der Generalsekretär selbst ist unbekannten Aufenthaltes. Der Kongreß der >CGT präsentierte sich daher am 8. Juni in einer gespannten, aber auch nachdenklichen Stimmung, die Diskussionen und Resolutionen lassen sich verhältnismäßig einfach resümieren: Erhöhung der Löhne, Verminderung der Militärkredite, Verlangen nach großen staatlichen Investierungen, Reform der Steuergesetzgebung, Einberufung

der obersten Kommission für die Kollektivverträge. Aber der Akzent lag nachdrucklich auf dem Ruf nach Einheit der Arbeiterklasse. Der Gedanke an eine Volksfront gewinnt ohne Zweifel an Boden, obwohl eine umfassende Propaganda und spektakuläre Aktionen wie vor dem ersten Regierungsantritt Leon Blums bis auf weiteres nicht erwartet werden. Das Verlangen nach einer Einheit der Gewerkschaftszentralen wird von der CGT zu deutlich unterstrichen, um nicht die Anordnungen von „außen“ zu verraten. Ihre sichersten Stützen sind die Metallarbeiter der Provinz, die kleinen Beamten und die Eisenbahner, während die sehr einflußreiche Föderation der Buchdrucker sich eine gewisse Unabhängigkeit des Denkens und Handelns bewahren konnte. Die CGT kann es nicht mehr wagen, politische Streiks zu organisieren, sie bleibt jedoch ein Machtfaktor, der sehr ernst zu nehmen ist.

Die christlichen Gewerkschaften können seit ihrer Gründung zu Anfang des Jahrhunderts eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung feststellen. Die CFTC bekennt sich eindeutig zu den christlichen Moralbegriffen, aber in ihren Reihen scheinen als Mitglieder in immer stärkerem Umfang auch Mohammedaner und Arbeiter ohne jede religiöse Bindung auf. Der Pfingstkon-greß 1953 war eine Bestätigung des wachsenden Einflusses dieser Gewerkschaftszentrale. Er hat vor allem die Spannungen innerhalb der Leitung beseitigt. Seit Jahren stand dem alten Gewerkschaftsgedanken, verkörpert durch Gaston Tessier, eine Gruppe jüngerer Persönlichkeiten gegenüber, die sich in einer Art Studienzentrale, „Recon-struetion“, zusammengeschlossen hatten. Zwischen der Mehrheit und dieser Minderheit entstanden offene Gegensätze hinsichtlich der Taktik des Kampfes gegen die liberale Wirtschaftsordnung. Der Kongreß folgte im wesentlichen den Thesen der Gruppe „Re-construetion“. Absolute Mitbestimmung in den Betrieben, gerechte V e rteilung der Früchte der Arbeit und grundlegende Steuerreform wurden damit die Parolen für die nächsten Monate. Eine Aenderung in der Organisation der CFTC erlaubte es dieser Minderheit, in den Besitz wichtiger Schlüssel-

positionen zu gelangen. Trotz des Unbehagens, das seit Jahren in der CFTC herrschte, war die Einheit der Bewegung nie ernstlich gefährdet. Denn die CFTC verurteilte stets den Kapitalismus und verwarf den Kollektivismus. Der Mensch ist demnach der Mittelpunkt der Gesellschaft. Die menschlichen Werke des Arbeiters sind unter allen Umständen zu sichern. Die christliche Gewerkschaft hat sich eindeutig für die Einheit Europas ausgesprochen “und als bestes Mittel, dahin zu gelangen, die Gründung eines europäischen Sozial- und Wirtschafts-rates gefordert.

Die dritte große Zentrale, die sozialistische FO, bewegt sich in ähnlichen Bahnen wie die CFTC. Die FO verfügt wohl über einen ausgezeichneten Propagandaapparat, konnte jedoch noch nicht bedeutenden Boden gewinnen. Mit Recht oder Unrecht wird sie verdächtigt, zu sehr die Interessen der amerikanischen Gewerkschaften in Europa zu vertreten. Auf alle Fälle fehlt es an einer klaren Definition der Begriffe. Als antikommunistische Bewegung gegründet, hat es FO nicht verstanden, sich ein eigenes positives Programm zu erarbeiten. Dabei verfügt FO über eine Reihe junger und dynamischer Persönlichkeiten. Es dürfte sich demnach ein Prozeß entwickeln, der in der CFTC bereits seinen Abschluß gefunden hat. War FO bisher durchaus geneigt, mit der Regierung und den Unternehmern zu verhandeln, so ist derzeit eine Versteifung in den sozialen Forderungen festzustellen.

Die französische Arbeiterschaft ist nach Jahren der Lethargie in Bewegung geraten. Die junge Generation sucht die Erfüllung ihrer Wünsche vorwiegend in den kommunistischen Theorien, die langsam, aber sichtlich an Boden gewinnen. Dieser Entwicklung wirken freilich andere Tendenzen entgegen. So wurde in der Textilindustrie zwischen Unternehmertum und Arbeiterschaft eine gemeinsame Aktion unternommen, um der schweren Krise dieses Industriezweiges entgegenzuarbeiten. Durch eine vernünftige Lohnpolitik, verbunden mit einer Lösung des so überaus drängenden Wohnproblems, könnte die Regierung den nichtkommunistischen Gewerkschaftszentralen wie der unorganisierten Arbeiterschaft Auftrieb geben.

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