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Was die Welt im Innersten zusammenhält

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Unter den vielen Ansätzen einer wahrscheinlich nie vervollständigbaren Erklärung der Welt nimmt die in einem kürzlich erschienenen Buch dargelegte Sichtweise Murray Geil-Manns eine besondere Stellung ein - aus mehreren Gründen.

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Unter den vielen Ansätzen einer wahrscheinlich nie vervollständigbaren Erklärung der Welt nimmt die in einem kürzlich erschienenen Buch dargelegte Sichtweise Murray Geil-Manns eine besondere Stellung ein - aus mehreren Gründen.

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Gell-Mann kommt aus der Quantenphysik, jenem wissenschaftlichen Bereich, aus dem Aussagen über erste — oder letzte — Zusammenhänge erwartet werden können, und ist als Nobelpreisträger mit beachtlicher fachlicher Autorität ausgestattet. Aber wie der Physiker einräumt „ist es noch nicht sicher, ob Leben hauptsächlich durch Physik bestimmt ist oder seine Eigenheit großteils der Geschichte verdankt.“

Die großen vereinheitlichenden Theorien sind einfach - meint zumindest Gell-Mann und bezieht sich auf die kurze Darstellbarkeit. Nimmt man etwa die Theorie des Elektromagnetismus von James Clerk Maxwell, so ist auch der aus dem Nicht- Physiker-Teil der Menschheit stammende Leser geneigt, zuzustimmen. Angesichts der Tatsache, daß es sich hier um eine Gesetzmäßigkeit han-delt, der das ganze Universum inklusive unserer kleinen Biosphäre unterliegt, erscheint der notwendige Erklärungsaufwand gering. Daß deren Formulierung eine Meisterleistung eines Genies an Verdichtung ist, bestreitet auch Gell-Mann nicht.

Zum Einfachen seien auch die bis jetzt gesicherten kleinsten Bausteine der Materie, die Quarks, zu zählen. Sein Konzept dieser Protonen und Neutronen aufbauenden Elementarteilchen hat dem Autor 1969 den Nobelpreis für Physik eingebracht. Ihre relativ große Zahl macht es aber unwahrscheinlich, daß sie die ursprünglichsten Bausteine der Materie sind. Wissen darüber ist also kein Wissen über die letzten Zusammenhänge. Die könnte vielleicht die bis jetzt hochspekulative Theorie der Superstrings bieten, Teilchen, die sich selbst aufbauen. Aber auch nur in Synthese mit der Kenntnis der Anfangsbedingungen des Universums zu dem Zeitpunkt, als es zu expandieren begann. Ist die Annahme von Hartle und Hawking korrekt, kann dieser Zustand vielleicht bald in einer einheitlichen Teilchentheorie ausgedrückt und zu einem Gesetz zusammengefaßt werden.

Dafür steht der Jaguar im Titel des Buches. Die Entstehung von komplexen adaptiven Systemen sei der Kernvorgang bei der Entwicklung des Lebens. Dazu gehört schon die der biotischen Evolution vorangehende chemische Evolution, zum Beispiel die allgemein angenommene Entstehung selbstreplizierender Riboriukleinsäuremoleküle. Das Wesen komplexer adaptiver Systeme liege in der Fähigkeit, aus dem ständigen sie umgebenden Datenstrom die Regelmäßigkeiten herauszufiltern und zu einem Schema zu verdichten. Mit Bezug darauf wird die Welt erklärt, in gewissem Sinn ihre Zukunft vorausgesagt und das eigene Verhalten darauf abgestimmt. Dieses Konzept reicht von der Entwicklung von Antibiotikaresistenzen bei Bakterien bis zum menschlichen Verhalten.

Die Bedingungen für die Entstehung komplexer adaptiver Systeme als Resultate von Ereignissen physikalischer Natur und Verstärkungsmechanismen - Selektionsdrücke - sind an bestimmten Zweigen der Geschichte günstig. Zum Beispiel wenn sich viele kleine unauffällige Veränderungen in einem Genom ereignet haben, so daß nur eine weitere statistische Veränderung genügt um zu einem Schleusenereignis wie der Ausbildung von Eukaryonten zu führen.

„Zufall tritt notwendigerweise auf den Plan, da die fundamentalen Geschehnisse quantenmechanisch sind und die Quantenmechanik lediglich Wahrscheinlichkeiten für alternative grobkörnige Geschichten des Universums liefert.“ Die Evolution als ein „Garten sich gabelnder Wege“ zu sehen, ist nicht ganz neu. In den siebziger Jahren wählte der amerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould den Vergleich mit verzweigten Büschen gegenüber der nicht zutreffenden Sicht einer Leiter, die immer weiter nach oben führe.

Gell-Mann legt nicht nur einen Überblick über den Stand des W issens vor, sondern formuliert auch Lösungsvorschläge für die anstehenden Probleme der aus dem Gleichgewicht geratenen Biosphäre. Über eine Säkularisierung des gesamten menschlichen Bewußtseins im Sinn des dargelegten Verständnisses von Physik und Geschichte sieht er einen Weg, die Koexistenz allen Lebens auf diesem Planeten zu sichern. Vielleicht besitzt die Wissenschaft noch die erforderliche Überzeugungskraft zur Durchsetzung der notwendigen Kurskorrekturen im menschlichen Handeln.

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