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Physikalische Betrachtungen des Virusproblems

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Nach jetzt geltenden Anschauungen läßt die Struktur der Materie zwei verschiedene Zustände erkennen, die sich grundsätzlich voneinander unterscheiden: feste Körper auf der einen, Flüssigkeiten und Gase auf der anderen Seite. Die ersteren sind ihrem Gefüge nach kristallin. Selbst in der an-scheindhd „amorphen“ Holzkohlenfascr wurde durch Röntgenstrahlen eine kristalline Struktur entdeckt, sofern man hierunter das Vorhandensein eines sich aus Atomen in bestimmter Aufeinanderfolge aufbauenden dreidimensionalen, periodischen Gitters versteht. Demgegenüber besitzen Flüssigkeiten und • Gase keine kristalline Struktur und auch keine Festigkeit; sie sind amorph.

iMan kann weitergehen und auch ein Molekül als festen Körper, als Kristall betrachten, denn die Atome, aus denen ein Molekül besteht, werden durch Kräfte von der nämlichen Art aneinandergehalten, wie sie im Kristall wirksam sind. Es sind jene verfestigenden Kräfte, die durch die Quantentheorie der chemischen Bindung von Heitier und London in ihrem Wesen erfaßt worden sind und deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein den eingangs erwähnten Unterschied in der Struktur der Materie ausmadit. Im festen Körper wie im Molekül bewirken sie, daß diese Atomanordnungen nur unstetiger, „quantisier-ter“ Veränderungen fähig sind. Die Stabilität eines Moleküls läßt sich durch die Wartezeit beschreiben, die bis zum Eintritt einer Konfigurationsänderung bei Einhaltung einer bestimmten Reaktionstemperatur verstreicht. Sie ist vom Verhältnis zweier Energien abhängig, deren eine größenordnungsmäßig durch die zu bewältigende Energieschwelle charakterisiert wird, während die andere die im Molekül vorhandene mittlere Wärmeenergie darstellt. Im Bereich 1:2 variierende Schwellen haben Änderungen der mittleren Wartezeit von Sekundenbruchteilen bis zu Zehntausenden von Jahren zur Folge.

Zu den stabilen Molekülen, die den Menschen begleiten, solange die Erinnerung reicht, gehören die V i r u s m o 1 e k ü 1 e. Sie verursachen eine Reihe von Krankheiten, wie Influenza, Masern, Pocken, epidemischer Kinderlähmung, befallen aber auch Tiere und Pflanzen. Von besonderem Interesse ist nun, daß dem Virusmolekül eine Art „Leben“ zukommt, indem es unter bestimmten Umständen imstande ist, zu wachsen und sich zu vermehren. Man hat diese Umstände genauer untersucht und dabei gefunden, daß sich das Virusmolekül aussdiließlich in lebenden Zellen oder deren unmittelbarer Nachbarschaft zu vermehren vermag, während Bakterien sich bekanntlich auch auf nicht lebendem organischem Material fortpflanzen. Damit kommt dem Virusmolekül eine Art „Partial“leben zu und es ergibt sich die interessante Tatsache, daß Leben keineswegs ein unteilbares Ganzes darstellt. Einzelne Virusarten lassen sich außerdem durch geeignete Eingriffe in Kristallform überführen, ohne darum an Vermehrungsfähigkeit oder Viruseigenschaft einzubüßen. Hitze und chemische Substanzen, unrer denen die Invertseifen zu nennen sind, vermögen das Virusmolekül zu inaktivieren.

Wag nun die Beziehungen des Y-i'rus-moleküls zum Wirtsorganismus betrifft, so scheinen sie von der Art zu sein,' daß die lebende Zelle jene Stoffe bildet, die das Wachstum des Virusmoleküls und seine schließliche Teilung in mit dem Ausgangsmolekül identisdie Bruchstücke ermög-lidien. Auch hiebei werden die Heitler-Lon-don-Kräfte eine beherrschende Rolle spielen. Bei den von der lebenden Zelle bereitgestellten Stoffen handelt es sich wohl um Körper mit sehr geringer Energieschwelle und dementsprechend verkürzter mittlerer Wartezeit, das heißt um äußerst kurzlebige Verbindungen, worin wohl auch der Grund zu erblicken ist, daß sich das Virusmolekül nicht auf totem organischem Material zu vermehren vermag.

Damit ergibt sich die Frage, ob durch ein zufälliges, vom Gesetz def^Wahrscheinlichkeit diktiertes Zusammentreffen derartiger durch eine geringe Energieschwelle im Verhältnis zur mittleren Wärmeenergie ausgezeichneter Atomanordnungen die spontane Entstehung eines Virusmoleküls ausgelöst werden kann Denn so selbstverständlich der Virchowsche Satz „Omnis cell-ula e cellula“ erscheint, so braucht er für das in der Mitte zwischen belebter und unbelebter Materie stehende Virusmolekül nicht in gleidier Weise zu gelten. Allerdings ist der Nachweis einer spontanen Entstehung bisher noch nidit erbracht worden und dürfte auch nicht, leicht zu erbringen sein, es sei denn durch das schlagartige Auftreten eier bisnun völlig unbekannten, große Menschenmassen erfassenden neuen Krankheit. Der Versuch, historische Aufzeichnungen zu diesem Zweck heranzuziehen, scheitert an der mangelnden Einsicht früherer Epochen in das Krankheitsgeschehen. Die Lösung dieser Frage scheint somit einem späteren Zeitalter vorbehalten zu sein.

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