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Widerstand gegen jede Vorschrift

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Innerhalb weniger Jahre machte die wissenschaftliche Gemeinde eine abrupte Kehrtwendung in ihrer Einstellung zu den Vorschriften über die Gentechnologie. Konfrontiert mit der Aussicht auf strenge staatliche Bestimmungen, mit denen die Grenzen der erlaubten Forschung sehr eng gezogen werden sollten, nahmen die Biologen eine erneute Einschätzung der gentechnischen Risiken vor, um Befürchtungen der Bevölkerung zu beschwichtigen. Das Experiment zur Einschätzung der potentiellen Gefahren, das öffentlich die meiste Aufmerksamkeit fand, wurde von Martin und Rowe durchgeführt. Die beiden Forscher stellten sich die Frage nach der Gefährlichkeit eines in die Umwelt gelangten neukombinierten DNS-Moleküls, in das ein Gen aus einem tödlichen Spenderorganismus eingebaut war. Dabei entdeckten sie, daß die neuen Bakterien entweder überhaupt oder nur zu einem extrem geringen Bruchteil (einem Milli-ardstel der ursprünglichen Infektiosität) infektiös waren. Martin und Rowe zeigten sich überzeugt, daß es kein Segment im DNS-Molekül eines Pockenvirus gab, das nach der Übertragung auf ein Bakterium in einem ungesicherten Laboratorium eine Gefahr darstellte. „Dasselbe gilt für alle tumorerregenden Viren und selbst für das tödliche Lassa-Fie-bervirus“...

Verlangte man ursprünglich einen Schutz gegen den schlimmsten denkbaren Unfall, so ging es jetzt nur noch um den Schutz gegen glaubhafte Risiken.

Es fragt sich jedoch, ob die neuen Befunde tatsächlich einen so tiefreichenden Bruch mit der sicherheitsbewußten Politik rechtfertigen, die die Wissenschaftler noch in den 70er Jahren verfolgt hatten. Es gibt zumindest einige informierte Fachleute, die der Meinung sind, der Ausgang des Versuchs von Martin und Rowe bietet keinen schlüssigen Beweis dafür, daß strenge Sicherheitsvorschriften nicht notwendig seien. Kritiker betonen, es gehe nicht etwa darum, daß die neukombinierten Bakterien weniger infektiös seien als das Tumorvirus selbst. Die Experimente von Martin und Rowe hätten vielmehr unwiderleglich gezeigt, daß das tödliche Merkmal durch Genmanipulation übertragen werden kann. Einige Beobachter leiteten daraus ab, die Experimente hätten gezeigt, daß die Genmanipulation tatsächlich einen neuen Überträger solcher gefährlichen Merkmale erzeugen könne, und dies sei das eigentlich wichtige Ergebnis der Versuche.

Es sind noch andere Szenarien entwickelt worden, die vermuten lassen, daß die besondere und subtile Komplexität neukombinierte Organismen allein schon dadurch zu einem Gesundheitsrisiko für den Menschen werden kann, daß diese in unvorhergesehene und deshalb ungepufferte Wechselwirkungen mit biologischen Systemen treten. Das wohl beste Beispiel für das Szenario eines Systemunfalls in diesem Bereich beruht auf der Autoimmunreaktion beim Menschen. Gesetzt, ein Protein aus einem tierischen Spenderorganismus wäre in ein Wirtsbakterium wie E. coli eingebaut worden. Durch einen trivialen Unfall könnte sich anschließend das E. coli im Darmtrakt eines Laborarbeiters einnisten. Das neukombinierte Bakterium nähme dort die Produktion von tierischem Protein auf, dessen Aufbau dem des menschlichen Proteins ähnlich ist. Dadurch würde das Immunsystem des Arbeiters ausgelöst, welche das fremde Protein angriffe. Aber wegen der Ähnlichkeit im Aufbau könnten die Antikörper nicht zwischen dem fremden und dem eigenen Protein unterscheiden, so daß sie auch das gesunde Gewebe des Arbeiters angriffen. Dieser Vorgang wird als Autoimmun- oder Autoaggressionskrankheit bezeichnet. Zwar halten Immunbiologen die Wahrscheinlichkeit eines solchem Ereignisses für gering, aber ihre Modelle können es andererseits auch nicht völlig ausschließen.

Die Tragik in der Geschichte der Sicherheitsbestimmungen auf dem Gebiet der Genforschung liegt darin, daß die ernsthaften und von Verantwortungsbewußtsein getragenen Bedenken der wissenschaftlichen Gemeinde so sehr umgeschlagen sind, daß heute eine besondere Abneigung und ein hartnäckiger Widerstand gegenüber allen bindenden Vorschriften zu verzeichnen sind. Es ist wahrscheinlich, daß die Notwendigkeit einer eigenen Lobby in Washington bei den Genforschern zunehmend zu einer Haltung geführt hat, die Sicherheit ihrer Verfahren nicht mehr offen in Frage zu stellen.

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