Die offenen Fragen um eine bakterielle Infektion beherrschen die Agenda der EU-Kommission und der Agrarminister. Beschleunigt von Kampagnemedien treibt die Verunsicherung der Konsumenten die Gemüsebauern in den Ruin.
Ehec! Die europäische Öffentlichkeit steht im Bann einer bakteriellen Infektion mit möglichen Todesfolgen, die gegenwärtig Deutschland heimsucht. In gesellschaftlichem Milieu selbstverständlicher Anspruchsmentalität herrscht Entsetzen: Wieso gelingt es denn nicht, das Bakterium Ehec dingfest zu machen? Wieso kann es den Deutschen (!) nur unterlaufen, an einem Tag in Festigkeit einen Träger krankmachender Keime zu nennen, was anderntags zurückgenommen werden muss? Wie konnte nur eine so chaotische Kommunikation entstehen?
Die Lage der bakteriellen Dinge ist komplex und kompliziert, der Kollateralschaden mangelnder sachlicher Aufklärung und angemessener Kommunikation enorm. Das hat mit der Wissenschaft ebenso zu tun wie mit den Behörden, mit den Medien sowieso und erst recht mit einer desperaten Öffentlichkeit.
Das Dilemma der Information
Das Bakterium Ehec erst lenkte die Aufmerksamkeit vieler auf den Umstand, dass wir von Billionen davon umgeben sind, ja, sie in uns tragen. Und einmal mehr erweist sich die von der Wissenschaft erhoffte Sicherheit als eine trügerische: Der überwiegende Anteil an Bakterien ist noch nicht exakt erforscht. Das nehmen jetzt verblüfft all jene zur Kenntnis, die meinten, Budgets für Wissenschaft und Forschung ließen sich risiko- und folgenlos einfrieren oder gar kürzen. Das ist, wie Figura zeigt, mitnichten der Fall. Im Gegenteil. Investitionen sind geboten, wie sich erwies, denn die genetische Decodierung des Bakteriums gelang den deutschen Labors erst mithilfe jener in China.
Die Behörden als nächstes Glied einer fatal falsch verbindenden Informationskette gaben erste Hinweise an die Politik weiter. Diese Darlegungen waren nur vermeintlich sachdienlich. An der Schnittstelle von Politik und Medien entstand jenes Chaos an Kommunikation, dessentwegen Berlin dieser Tage herbe Schelte aus Brüssel erhielt und zu einer Sonderkonferenz einlud.
Die Politik steht teils unter erheblichem Druck mancher Massenmedien, und was die beiden dann gemeinsam anpacken, geht oft genug schief. Wissenschaft und Politik brauchen meist mehr an Zeit, als ihnen manch sich selbst ständig beschleunigende Medien einzuräumen bereit sind. Denn hinter diesen steht oft genug eine zu Recht auf rasche und klare Information drängende Öffentlichkeit. Allein: Weder das Tempo der Auskunft noch die Sicherheit über die Sachlage sind so wohlfeil zu haben, wie es gelegentlich verlangt wird. Es bleibt ein Dilemma: Die rasche - und dann korrigierte Information - über Ehec-Träger hat Europas Gemüsebauern Verluste eingebracht, die mit den in Aussicht genommenen 150 Millionen Euro nur unvollständig abgegolten sind. Andererseits: Erst Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima räumten die Behörden in Tokio ein, darüber stets unvollständig informiert zu haben. Zu groß sei die Sorge um eine von Angst ausgelöste Panik gewesen.
Das Paradoxon der Angstgesellschaft
Angst widersteht jeder Kritik der reinen Vernunft, schreibt Niklas Luhmann. Äußerst hellsichtig analysierte der 1998 verstorbene deutsche Soziologe in seinem Werk Ökologische Kommunikation unter anderem, gerade eine um Verbesserung bemühte Politik wirke angststeigernd. Die intensive Berichterstattung etwa über Lebensmittelchemie müsse zu dem Eindruck führen, nichts sei ungefährlich und alles verseucht. Wir halten ja gerade bei dem von Luhmann 1986 formulierten "paradoxen Effekt“, unwahrscheinliche Risiken würden überschätzt werden, und die freiwillig eingegangenen Risiken würden für geringer erachtet werden als jene, denen man unfreiwillig ausgesetzt sei. Zu ergänzen wäre, dass diese Ängste heute von Kampagnemedien befeuert werden, die sich das von jenen, die sie damit unter Druck setzen, bezahlen lassen, nämlich der Regierung.
Was tut Not? Mehr Mittel und Zeit für Forschung sowie sachgerechte, vollständige und transparente Information, dazu mehr an behördlicher Kooperation. Anders ist dem Bakterium Angst nicht beizukommen.
claus.reitan@furche.at
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