Schulschrift - © Illustration: Rainer Messerklinger

Riskante Freiheit beim Schreibenlernen

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Die eigene Handschrift sollen sich heimische Schülerinnen und Schüler „selbst erarbeiten“. So will es der Volksschullehrplan. Dabei spricht vieles gegen diese Form der Autodidaktik.

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Die eigene Handschrift sollen sich heimische Schülerinnen und Schüler „selbst erarbeiten“. So will es der Volksschullehrplan. Dabei spricht vieles gegen diese Form der Autodidaktik.

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Der erste Buchstabe sieht aus wie eine Mischung aus Tsunami-Welle und Schlumpfhaus. Eigentlich sollte es ein „A“ sein, ein großes, das Klara Neumanns (Name von der Red. geändert) Sohn mit verkrampfter Hand da aufs Papier gebracht hat. Neumann, 43 und nicht Pädagogin von Beruf, sagt zuerst nichts. Ihre vom Lehrer während der Corona-Zeit zugewiesene Aufgabe ist es, ihren Sohn bei seinen Schreibaufgaben zu „überwachen“. Jeden Tag zwei Seiten Deutsch, so die Vorgabe. Wie genau das bei einem Achtjährigen, der bis vor kurzem ausschließlich in Druckschrift geschrieben hat, zu funktionieren hat, sagt ihr niemand.

Eine ganze Weile muss sie immer wieder wie gebannt auf das Papier vor ihrem Sohn starren. „Was er dort Zeile für Zeile aufschrieb, erinnerte mich zuweilen mehr an fremde Schriftzeichen denn an die hierzulande gängige Schreibschrift“, sagt Neumann. Druck- und Schreibschriftbuchstaben wurden vermischt, die Verbindungen der einzelnen Buchstaben wirkten eher zufällig. Zu allem Überfluss bedeutete jeder Satz für ihren Sohn eine große Anstrengung. „Was mir besonders auffiel, war, dass jeglicher Bewegungsfluss fehlte.“ Von Freude am Schreiben konnte sowieso keine Rede sein.

Plädoyer gegen zu viel Freiraum

Nach etlichen Wochen hält sie es nicht mehr aus: „Ich konnte nicht glauben, dass es im Home-Schooling nur darum geht, die eigenen idiosynkratischen Schriftzeichen zu perfektionieren.“ Als engagierte Teilzeit-Lehrerin beginnt sie sich daher an einem „schulfreien“ Nachmittag ihres Sohnes selbst schlauzumachen. Google sei Dank landet Neumann auf der Website der deutschen Schriftexpertin Maria-­Anna Schulze-Brüning, Professorin für die Fächer Französisch und Kunst an der Sophie-Scholl-Gesamtschule in Hamm.

„Als Lehrerin an einer weiterführenden Schule bin ich ständig mit Handschriftproblemen konfrontiert“, ist dort zu lesen. Dies sei für sie vor einigen Jahren zum Auslöser geworden, sich dem Thema praktisch und theoretisch intensiv zu widmen. Jedes Jahr wertet Schulze-Brüning die Handschriften der 165 bis 180 Fünftklässler ihrer Schule aus und verfolgt ihre Entwicklung. Ein beträchtlicher Erfahrungsschatz ist so zusammengekommen – und offensichtlich auch eine große Bereitschaft, sich für den Erhalt der Handschrift zu engagieren.

Auf ihrer Seite finden sich nicht nur Details zu den exakten Bewegungsabläufen bei einzelnen Buchstaben, sondern auch zahlreiche Statements der „Allianz für die Handschrift“ und anderer, die Neumann vor Augen führen, dass die Probleme, die ihr Sohn Corona-bedingt zu Hause austrägt, kein Einzelfall sind.

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