Am Grab unserer Wünsche

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Man hört so viel von Gedenkdienst, von Trauerarbeit und dergleichen. Diese notwendigen Übungen soll man das ganze Jahr über vollführen. Der November aber ist denen gewidmet, deren Verlust man nicht verwunden hat, nie verwinden wird. Man trauert um sie, beweint sie, bemitleidet sich selber und ist traurig, dass sie auch heuer nicht mit uns unter dem Christbaum sitzen werden.

Mir ist der Totenkult der Allgemeinheit immer zu Herzen gegangen, und ich nütze die Zeit, an die zu denken, die nicht, so wie ich, das Glück hatten, aus dem Krieg, den Gefängnissen der Nazis, den Lagern und der Gefangenschaft heimzukehren. Ihnen allen lege ich einen Kranz aufs Grab, auch wenn viele von ihnen keines haben.

Dann aber gestatte ich mir, an jene zu denken, die mir ganz nahe waren - nein, sind. Die Mutter, die Großeltern, der Sohn. Der allerdings weiß, dass ich für ihn bete - ich spreche jeden Tag mit ihm. Seit vollen zehn Jahren. Ich denke an die Kollegen, die vorausgegangen sind und "drüben" das große Ensemble bilden - mit der Wessely an der Spitze. Martin Benrath ist dort, Ulrich Wildgruber - alles Jedermann-Spieler in Salzburg. Ich denke an Bruno Kreisky und Bruno Marek, aber auch an den Kanzler, der das erste Opfer des braunen Terrors in Österreich war.

Und ich denke an all die Ideen, die wir zu Grabe tragen mussten in den Jahren nach dem Zweiten und hoffentlich letzten Weltkrieg. Die Idee einer ewig friedlichen Welt - einer Welt, frei von Hass, Hunger und Angst. Wir glaubten an die Vernunft der Völker, an ein Verlöschen des Hasses. Wir glaubten, dass die Menschen lernen werden, aus der Geschichte zu lernen. Glaubten an Versöhnung und Liebe, hofften, dass der Begriff Guter Mensch nicht zum Spottwort hinuntermanipuliert wird, wir glaubten, glauben zu dürfen.

Und nun stehen wir (ich) alt und enttäuscht am Grab unserer Wünsche. Lacht nicht, wenn wir uns so vermessen gebärden, einen Kranz darauf zu legen. Nicht einen aus Eichenlaub, nicht einen aus Lorbeerzweigen, nein: einen aus guten Gedanken mit Tränen begossen.

November - Herbstlaub - Frost. Trotzdem - ich glaube an die Auferstehung!

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