Der Umzug war auch ein geistiger Umbruch

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Ein gravierender Verlust der deutschen Wiedervereinigung wird öffentlich kaum beachtet: Deutschland ist religiös schwächer, sozial kühler, politisch oberflächlicher und geistig ratloser geworden.

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Ein gravierender Verlust der deutschen Wiedervereinigung wird öffentlich kaum beachtet: Deutschland ist religiös schwächer, sozial kühler, politisch oberflächlicher und geistig ratloser geworden.

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Zum zehnten Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung werden Gewinn- und Verlustrechnungen aufgemacht: Wie weit zusammengewachsen ist, was zusammengehört?

Es gibt die enttäuschten Ostdeutschen, die sich seit dem Ende der DDR um ihr Lebenswerk und ihr Heimatgefühl gebracht sehen. Es gibt jene, die von westdeutscher Besserwisserei überfahren wurden, die ihre Arbeit verloren haben, materiell und seelisch um ihre Existenz bangen. Und es gibt jene, die sich nach der Wende ein an Haupt und Gliedern reformiertes demokratisches Deutschland wünschten - und nicht einen mehr oder weniger gelungenen Anschluss an den Westteil der Republik. Doch trotz manchem Groll sehnt niemand ernsthaft frühere Verhältnisse herbei. Die Gewinner stehen außer Frage: Es sind alle, besonders jene Bürger, die erstmals Freiheit, Demokratie, Rechtssicherheit, soziale Marktwirtschaft bekommen haben.

Ein gravierender Verlust allerdings wird in den öffentlichen Bilanzen kaum beachtet. Mit dem Beitritt des mehrheitlich atheistisch geprägten Bevölkerungsteils der DDR zur Bundesrepublik ist die Gesamt-Gesellschaft in Ost und West religiös entfremdeter, religionsloser geworden. Das wirkt sich sozial und politisch viel stärker aus, als man auf den ersten Blick vermutet.

Mit dem Übergang von der "Bonner Republik" zur "Berliner Republik" hat zum Beispiel der traditionsreiche rheinische Sozialkatholizismus seinen Einfluss verloren. Die soziale Verfassung der Bundesrepublik gründet wesentlich auf Leitvorstellungen der christlichen Gesellschaftslehre. Wie lange ist das unter dem Druck eines neuen kalten, globalisierten Kapitalismus zu verteidigen?

Der Umzug von Regierung und Parlament an die Spree markiert einen geistigen Bruch: weg von philosophisch oder christlich motivierten politischen Haltungen hin zu pragmatischen Machtkalkülen, Politikverwaltung und Politikinszenierung weitgehend ohne religiöses Menschenbild, ohne Gottesbild, ohne geistige Mitte. Der Drang der Parteien hin zur sogenannten neuen Mitte täuscht. Dabei handelt es sich weniger um eine inhaltlich gefüllte Mitte als um ein Niemandsland, auf dem sich alle tummeln können, sofern sie nur ihre Profile durch Anpassung abschleifen.

Unter dem Druck des Nachwende-Wirtschaftsliberalismus haben die Volksparteien ihre sozialpolitischen Flügel gestutzt. Der freie Markt führt Regie. Starke Gegenspieler - einst Sozialismus oder Christentum - fehlen. Der durch die Banalität des Alltagsatheismus verursachte Utopieverlust begünstigt darüberhinaus ein Politikverständnis, das immer kurzatmiger zur reinen Schadensbegrenzung neigt. So ist Deutschland zehn Jahre nach der Wende nicht nur religiös schwächer geworden, sondern zugleich sozial kühler, politisch oberflächlicher und geistig ratloser - visionslos.

Das gilt auch für die Außenpolitik. Der europäische Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg verdankte sich bedeutenden Staatsmännern, die von einer Friedens- und Gerechtigkeitsidee für diesen Kontinent christlich zutiefst bewegt waren. Nie wieder Krieg! Nie wieder Unrecht! Nie wieder Vertreibung! Für die Nachwende-Generation hat die persönliche Religiosität dagegen keine realpolitische Relevanz mehr. Auch deshalb ist die deutsche Europapolitik so unsicher, kraftlos, wankelmütig und widersprüchlich geworden.

Die Dynamik des Anfangs bei der deutschen Einigung sollte die Europäisierung Europas nach Osten hin und vom Osten her beschleunigen. Der Antrieb ist verpufft. Das vereinigte Deutschland braucht daher heute mehr noch als vor zehn Jahren Nachbarn, Freunde, um mit ihnen gemeinsam neue geistige und kulturelle Horizonte zu gewinnen - für sich und für Europa.

Der Autor ist Chefredakteur der Wochenzeitschrift "Christ in der Gegenwart" mit Sitz in Freiburg im Breisgau.

E-Mail: w.machreich@styria.com

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