Gebote für den Menschen

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Mit seiner Ansprache am Ende der Familiensynode hat Franziskus dem vagen Abschlussdokument einen "Spin" gegeben, der sich ins Grundmuster seines Pontifikats einfügt.

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Mit seiner Ansprache am Ende der Familiensynode hat Franziskus dem vagen Abschlussdokument einen "Spin" gegeben, der sich ins Grundmuster seines Pontifikats einfügt.

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Das Schlussdokument der Familiensynode teilt das Schicksal vieler kirchlicher Papiere bis hin zu den Texten des Zweiten Vatikanums: Es ist über weite Strecken, der Notwendigkeit eines Kompromisses geschuldet, vage und unkonkret. Was zur Folge hat, dass sich Vertreter unterschiedlichster Richtungen darauf berufen und mit einigem Recht auch berufen können. Auch das kennen wir aus den Debatten über das Konzil - und es geschieht ebenso bereits jetzt wieder.

Als ein hermeneutischer Schlüssel lässt sich indes die Ansprache des Papstes zum Abschluss der Weltbischofssynode über "Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute" lesen. Sie steht, wie sein bisheriges Pontifikat als Ganzes, im Spannungsfeld von Wahrheit und Barmherzigkeit. Wie schon so oft fühlt man sich auch bei diesen Ausführungen Franziskus' an das Jesuswort aus der Bergpredigt erinnert, er sei nicht gekommen, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen (vgl. Mt 5,17). Ganz in diesem Sinne sprach Franziskus auch zu den Synodenteilnehmern davon, dass es gelte, "die Gesetze und die Gebote, die für den Menschen geschaffen sind und nicht umgekehrt (vgl. Mk 2,27), noch mehr zur Geltung zu bringen".

Schlüsselbegriff Barmherzigkeit

Die Gebote, die für den Menschen geschaffen sind: Das ist ein zentraler christlicher Gedanke, den Papst Franziskus neu zum Leuchten bringen will. Er ist eng verbunden mit dem Begriff der Barmherzigkeit, der freilich vielfach missverstanden wird: als eine Art theologisch-frommer Überhöhung sozialund gesellschaftspolitischer Einebnung. Demgegenüber meint christliche Barmherzigkeit zunächst eine individuelle - freilich der Kirche als ganzer aufgetragene -Haltung, die sich gegenüber Einzelnen bzw. im Einzelfall manifestiert. Nicht von ungefähr rekurriert das Wappen von Franziskus mit dem Wahlspruch "Miserando atque eligendo" ("aus Barmherzigkeit erwählt") auf die Begegnung Jesu mit dem Zöllner Matthäus (Mt 9,9; in der Interpretation des angelsächsischen Benediktiners Beda Venerabilis, 735). Und die Rede von der Barmherzigkeit setzt voraus, dass es ein Fehlverhalten, ein Abweichen vom Gebotenen gibt, dem gegenüber man sich erst barmherzig erweisen kann (und soll). Barmherzigkeit meint also so ziemlich das Gegenteil eines unterschiedslosen Durchwinkens von Verhaltensweisen und Lebensformen, welches gemeinhin als Ausdruck von Toleranz und Aufgeklärtheit zu gelten hat.

Zwischen Ideal und (Lebens-)Wirklichkeit

Das lässt sich auch auf die Themen der zu Ende gegangenen Synode, auf Ehe und Familie, herunterbrechen. Selbst die weitestgehenden, "fortschrittlichsten" Ansätze, die dazu unter den kirchlichen Entscheidungsträgern diskutiert wurden, sind Lichtjahre entfernt von dem, was nach säkularem Verständnis als state of the art gilt. Ganz konkret am Beispiel eines der heißesten Eisen und auch in der Tat pastoral drängendsten Probleme: Wer sich als Geschieden-Wiederverheirateter auf eine (ohnedies im Schlussdokument nicht vorgesehene) "via poenitentialis", also einen Weg der Buße, zwecks Zulassung zu den Sakramenten begeben sollte, müsste erst einmal das Scheitern seiner ersten Ehe als solches empfinden. Das Einbekenntnis eines Scheiterns aber setzt die Anerkennung eines Maßstabs voraus. Fehlt dieser, fällt auch die Spannung zwischen Ideal und (Lebens-)Wirklichkeit, an der die Kirche festhalten muss, zwangsläufig in sich zusammen.

Das Skandalon der katholischen Lehre - diesfalls von der Unauflöslichkeit der Ehe als einer Gemeinschaft von Mann und Frau, die offen ist auf Kinder - wird durch Barmherzigkeit nicht aus der Welt geschafft, auch nicht gelindert. Aber ohne Barmherzigkeit verliert die Wahrheit an Glanz und Leuchtkraft. Das wohl ist die tiefste Überzeugung des Bischofs von Rom.

rudolf.mitloehner@furche.at

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