Bourdieu - © Foto: picturedesk.com / Jean-Régis Roustan / Roger Viollet

Pierre Bourdieu: Der Soziologe der Distinktion

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Vor 90 Jahren wurde Pierre Bourdieu geboren, einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. In seinen Forschungen beschrieb er unter anderem die kulturelle Reproduktion sozialer Unterschiede.

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Vor 90 Jahren wurde Pierre Bourdieu geboren, einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. In seinen Forschungen beschrieb er unter anderem die kulturelle Reproduktion sozialer Unterschiede.

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Die Rolle des Individuums zu bestimmen, das von sozialen und ökonomischen Zwängen bedroht wird, sah Pierre Bourdieu als die zentrale Aufgabe seiner Forschungstätigkeit. Bourdieu gilt als einer der bedeutendsten Soziologen im 20. Jahrhundert. Eine Radikalität des Denkens zeichnete ihn aus; seine oft provokativen Interventionen richteten sich gegen die vom Neoliberalismus propagierte Globalisierung der Welt, die er für das Elend der Welt verantwortlich machte. Bourdieu warf der soziologischen Forschung seiner Zeit vor, dass sie die eigene Gesellschaft und auch fremde Kulturen von der Warte des etablierten Intellektuellen betrachtete, der davon ausgeht, soziale Konflikte weitgehend zu ignorieren.

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Dieser Vorwurf betraf auch Soziologen, die sich wenig um die Exklusion marginalisierter Gruppen kümmerten. Unter Exklusion verstand Bourdieu die Tatsache, dass ein wachsender Teil der Gesellschaft damit konfrontiert wird, als Arbeitslose oder als Sozialhilfe empfänger für die Erfolgreichen und Tüchtigen nur mehr eine Belastung darzustellen. Entlarvend für den menschenverachtenden Zynismus der Globalisierungsgewinner ist eine Bezeichnung wie „die Überflüssigen“, mit der die genannten Gruppen belegt werden, weil sie für das Brutto national produkt nur einen geringen oder gar keinen Beitrag leisten und sogar vom Staat unterstützt werden müssen.

Schattenseiten

Geboren wurde Pierre Bourdieu am 1. August 1930 als Sohn einer bäuerlichen Familie in einem Dorf der französischen Pyrenäen. Er besuchte das Gymnasium in Pau, wo er bereits die Schattenseiten der repressiven Gesellschaft kennenlernte. „Im Internat ist angesichts der Not des Überlebenskampfes alles bereits vorhanden, Opportunismus, Servilität, Denunziantentum und Verrat“ notierte er. Danach studierte er an der École Normale Supérieure und war als Assistent an der Faculté des lettresin Algier tätig. Nach seiner Rückkehr erhielt er 1964 einen Ruf als Professor an dieÉcole Pratique des Hautes Études en Sciences Sociales. 1981 wurde der Soziologe an das renommierte Collège de France berufen und erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen, was angesichts seiner Skepsis gegenüber dem universitären Betrieb einer gewissen Paradoxie nicht entbehrt. Am 23. Jänner 2002 starb Bourdieu in einem Krankenhaus in Paris. Im Zentrum von Bourdieus wissenschaftlicher Arbeit stand die Analyse von akademischen Einrichtungen der französischen Gesellschaft. Er entwickelte die Theorie vom symbolischen und kulturellen Kapital, von dem Intellektuelle auf Grund ihrer Ausbildung profitieren, die darin besteht, „das Kapital an Ehre und Prestige zu akkumulieren“.

Der Soziologe zeigte auf, dass dieses Bildungsprivileg dazu führe, interne Codierungen der scientific community als Ausschließungsgrund für nicht Eingeweihte zu installieren. In seiner umfangreichen Studie „Homo academicus“ zeigte er am Beispiel des inneren Zirkels der französischen Universitätsausbildung die herrschenden hierarchischen Strukturen auf und die Eitelkeit von Intellektuellen, die ihre eigene Selbstinszenierung betreiben, die sich besonders deutlich bei Kongressen zeigt, bei denen wissenschaftliche Dispute in einer Art Hahnenkampf stattfinden, bei dem es darum geht, den Gegner, der nicht die eigene wissenschaftliche Position vertritt, zu diskreditieren. Die wissenschaftliche Welt präsentiert sich als eine Welt des Sozialen, wie sie auch in anderen Bereichen der Arbeitswelt vorkommt. Sie ist ein Mikrokosmos, in dem sich all das widerspiegelt, was auch die normale Welt strukturiert.

Unsere kulturellen Vorlieben und unser Geschmack sind das Ergebnis komplexer sozioökonomischer Prozesse.

Zentral ist die Effizienzsteigerung mit all ihren negativen Begleiterscheinungen wie Wettbewerb, Konkurrenzkampf, oder die Sehnsucht, zu der intellektuellen Elite zu zählen, die sich im Elfenbeinturm der Wissenschaft bewegt. In seinem Buch „Homo academicus“ beschrieb Bourdieu das häufig idealisierte wissenschaftliche Milieu als einen Dschungel von Einzelkämpfern. Es gilt das Diktum des englischen Philosophen Thomas Hobbes: „Der Mensch ist des Menschen Wolf.“

„Das Erstaunliche daran ist,“ sagte Bourdieu in einem Gespräch, „dass diese Strukturen auch die wissenschaftliche Welt bestimmen, die ja den Anspruch hat – ähnlich wie die Kunst oder die Religion – ein autonomes Gebilde mit eigenen Gesetzen zu sein.“ Korrespondierend mit diesem Werk entstand das Buch „Die feinen Unterschiede“, das als zweites Hauptwerk des Soziologen gilt. Er beschrieb darin die kulturelle Reproduktion sozialer Unterschiede. Unsere kulturellen Vorlieben und unser Geschmack sind das Ergebnis komplexersozioökonomischer Prozesse.

Hier spielte der Begriff des „Habitus“ eine wichtige Rolle; darunter verstand Bourdieu die ästhetische Organisation des Lebens, die, ähnlich wie das akademische Leben, von bestimmten Distinktionen geprägt ist, die die Gesamtheit unserer Gewohnheiten, Gesten oder Vorlieben betreffen.Bourdieu ging in der umfangreichen Studie davon aus, dass Geschmacksurteile der herrschenden Klasse sich dadurch auszeichnen, dass sie einen elitären Lebensstil bevorzugen, der sich zum Beispiel durch Kleidung, Wohnungseinrichtung, Besuche von Haubenlokalen oder Luxusreisen auszeichnet. Besonders eignen sich Kunstwerke oder Bücher für die Distinktion, die der „Connaisseur“, der über eine umfassende Kenntnis der Kunst- und Literaturgeschichte verfügt, genießt, während sich ein ziemlich großer Teil der „unteren Schicht“, wie sie Bourdieu nennt, mit der Lektüre von Trivialromanen, von Massenzeitungen oder dem Konsum von endlosen Fernsehserien begnügt. Neben diesen beiden Lebensstilen ortete der Soziologe noch die Mittelschicht, die sich durch „Bildungsbeflissenheit“ auszeichnet. Sie äußert sich laut Bourdieu in der Wertschätzung für Werke der impressionistischen Malerei, für die „Ungarische Rhapsodie“ von Franz Liszt oder die „Vier Jahres- zeiten“ von Antonio Vivaldi. Die Oberschicht hingegen bevorzugt Pablo Picasso, Pierre Boulez, James Joyce oder Samuel Beckett.

Anleitungen

In den letzten Jahren seines Lebens engagierte sich Bourdieu für das Projekt „Raisons dʼagir“, was man als „Anleitungen zum Handeln“ übersetzen kann. Das Ziel bestand darin, angesichts des globalisierten ökonomischen Unrechts eine neue Art des sozialen und politischen Handelns in die Wege zu leiten. Es ging darum, dissidente Intellektuelle aufzufordern, sich nicht der herrschenden Klasse anzudienen, sondern als „Experten für Subversionen“ Sand in das Getriebe des kapitalistischen Systems zu streuen und daran zu arbeiten, nationale Denkmuster und ethnozentrische Diskurse zu überwinden. „Diese Bewegung muss eine mächtige Bewegung sein“ – so lautete die Forderung von Bourdieu – „die Regierungen drängen könnte, wirksame Maßnahmen für eine Kontrolle der Finanzmärk- te zu ergreifen und eine gerechtere Verteilung des Reichtums in und zwischen den Nationen durchzusetzen.“

LITERATURHINWEIS: „Homo academicus“ und „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ sind in der Reihe „suhrkamp taschenbuch wissenschaft“ erhältlich. Dort erscheinen auch sämtliche theoretischen Schriften und Studien von Bourdieu.

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