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Chaos im Schichtbetrieb

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104 Tagesordnungspunkte, eine Welle von Dringlichen Anfragen, 90-Stun-den-Woche, Tag- und Nacht-Schichtbetrieb im Parlament: Wer will damit wem imponieren?

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104 Tagesordnungspunkte, eine Welle von Dringlichen Anfragen, 90-Stun-den-Woche, Tag- und Nacht-Schichtbetrieb im Parlament: Wer will damit wem imponieren?

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Die Attacke auf Vizekanzler Erhard Rusek noch unterstreichend, meint der FPÖ-Abge-ordnete John Gudenus liebevoll: „Sie sind nicht nur ein Koalitionstrottel. Sie sind ein Idictl". Und im vollen Re-wußtsein des Ansehens des Hohen Hauses replizierte der Vizekanzler: „Wenn Ihre Ahnen jene Haltung zur Kultur gehabt hätten, wären wir heute noch ein Urwald." Sind das Fieberträume eines pensionierten Abgeordneten? Leider nicht Ich entnehme dieses Wortduell wörtwörtlich dem Protokoll der vergangenen Parlamentswoche.

Einmalige Entgleisung, Hitzekoller oder mehr? Wäre es nur ein einmaliger Ausrutscher, zwar nicht entschuldbar, aber begreiflich, könnten wir zur Tagesordnung übergehen. Ich befürchte, hinter diesem Eklat verbergen sich viel ernstere Probleme, die gerade von jenen in aller Offenheit diskutiert werden müssen, denen Parlament und Demokratie wirklich am Herzen liegen.

Ein junger Gewerkschaftskollege fragte' mich dieser Tage: Rist Du froh, daß Du diesem Wahnsinn entronnen bist? Er bezog sich nicht auf das Gemetzel anläßhch der Debatte um den Ankauf der Sammlung Leopold, sondern auf den Eindruck, den die Ankündigungen der letzten Parlamentswoche bei vernünftig Denkenden erwecken mußte: Marathonsitzung im Parlament, 104 Gesetzesbeschlüsse müssen noch vor den Ferien unter Dach und Fach gebracht werden. Irgendwie.

Der für fünf Tage angesetzte Parlamentskehraus vor der Sommerpause - erschwerend diesmal zudem das Ende der Legislaturperiode und damit der Beginn des Wahlkampfes -hat alles über den Haufen geworfen: Tage wie Ordnung, voran die „Tagesordnung". Uber hundert Beschlüsse, sieben Dringliche Anfragen, Nachtschichtbetrieb. Herz, was willst Du mehr? Die Volksvertreter zerfransen sich. Oder?

Kurt Vorhofer resümierte: „Die Politik verträgt schon eine gehörige Portion Unvernunft, aber es gibt auch hier eine Grenze für das gerade noch Erträgliche." Die. Vorgangsweise im Hohen Haus stieß nicht erst im Juli 1994 an diese Grenze, dieses Schauspiel wiederholt sich beim „Schlußverkauf" Jahr für Jahr. , Sollte es nicht auch in einem,"politischen Forum so etwas wie Zeitökonomie geben? So mancher der 104 Punkte hätte schon längst abgehandelt werden können. Ist dies -aus welchen Gründen immer — nicht geschehen, muß gewichtet werden: Was muß in dieser Periode noch (um jeden Preis) beschlossen werden, was kann und soll, um es überhaupt sinnvoll debattieren zu können, verschoben werden? - Praktisches Beispiel: Hätte man die Bundesstaatsreform ju-stament noch ins Programm dieser letzten Woche hineingepreßt - das Chaos wäre noch blamabler gewesen, hätten sich die Begierungsparteien nicht für einen Aufschub entschieden.

Warum kommt es überhaupt zu diesem Bestemm, der jeden zeitlichen Bahmen sprengen muß? Bei nicht wenigen Tagesordungspunkten wird man vergeblich nach der politischen

Dringlichkeit fragen. Ehrlicher wäre es doch, nach Prestige, nach politischer Eitelkeit und - besonders vor Wahlterminen - nach Alibicharakter zu suchen. Das darf wohl jemand sagen, dem eine Abqualifizierung der parlamentarischen Demokratie doch wirklich fernliegt. Es geht da um die Lösung eines politischen Existenzpro-blemes: Wie vermeide ich physische und psychische Zerreißproben für jeden einzelnen Abgeordneten, wie ist damit gleichzeitig das parlamentarische Leben so aufzubereiten, daß der interessierte Rürger es (überhaupt noch) verfolgen kann.

Kontroversen, über Rlockredezeiten habe ich erlebt; einiges ist da sogar verbessert worden. Elendslange Redenerlisten zu Tagesordungspunkten gibt es trotzdem. Wozu eigentlich? Argumente werden wiederholt, Themen werden weiter bis zur Rrache abgegrast. Kürze und Würze sind da jedem Redner empfohlen: sogq|p2(ih Minuten wären dann oft überflüssig, weil Rlattvorlesungen nicht nur für den Zuhörer fad sind.

Das Parlamentspräsidium und die Klubführungen sind jetzt am Zug. Wunder kann keiner allein wirken. Aber bei echter parlamentarischer Kooperationsbereitschaft, die sich gleich in einer neuen Geschäftsordnung niederschlagen müßte, sollten wir einer lebendigen Demokratie um einen nächsten Schritt näherkommen. Medien spielen dabei wohl auch eine Schlüsselrolle: denn so manche Erfolgsstatistik oder Schlagzeile (ver-)führt nur zu Verzerrungen des Parlamentsbildes.

Das Parlament selbst wäre gut beraten, die Atempause dieses Sommers - jetzt zwischen zwei Legislaturperioden - zur grundsätzlichen Reform zu nutzen. Weil sich dieser „normale Wahnsinn" nicht wiederholen darf.

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