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Zwischen Erzengel und Damon

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Mit hörbarem Aufatmen drehten am Abend des 11. März die Pariser ihre Fernsehknöpfe. Der Staatschef wollte neuerlich seine Nation beruhigen, die Güte seines Regimes preisen und die Wahlberechtigten auffordern, am 27. April im Referendum ein massives „Ja“ abzugeben. Der Generalstreik seit Juni 1968 war glücklich überstanden. Paris bot das übliche Bild eines solchen arbeitsfreien Tages. Die Militärautos transportierten Angestellte und Arbeiter, die Metro verkehrte manchmal oder überhaupt nicht, die Bahnhöfe lagen verödet da, und die Postämter standen wohl offen, aber hinter den Schaltern fehlten die Beamten. Die Bevölkerung nahm mit gewissem Fatalismus die zeitweise Erschwerung der Lebensumstände hin.

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Mit hörbarem Aufatmen drehten am Abend des 11. März die Pariser ihre Fernsehknöpfe. Der Staatschef wollte neuerlich seine Nation beruhigen, die Güte seines Regimes preisen und die Wahlberechtigten auffordern, am 27. April im Referendum ein massives „Ja“ abzugeben. Der Generalstreik seit Juni 1968 war glücklich überstanden. Paris bot das übliche Bild eines solchen arbeitsfreien Tages. Die Militärautos transportierten Angestellte und Arbeiter, die Metro verkehrte manchmal oder überhaupt nicht, die Bahnhöfe lagen verödet da, und die Postämter standen wohl offen, aber hinter den Schaltern fehlten die Beamten. Die Bevölkerung nahm mit gewissem Fatalismus die zeitweise Erschwerung der Lebensumstände hin.

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Zu oft war verkündet worden, daß im Frühling soziale Spannungen entstehen würden. Daher wurde die Lähmung der öffentlichen Dienste mit demselben Stoizismus ertragen, mit dem ein Unwetter registriert wird. Uberängstliche fragen sich allerdings, ob es bei einem Streiktag bleibt. Nach Willen der Gewerkschaft CFDT soll die Arbeitsniederlegung systematisch ausgedehnt, einzelne Sektoren der Verwaltung und Industrie erfassen und sich über Wochen erstrecken. Die kommunistische CGT dagegen laviert vorsichtig; sie liebt Massenaufmärsche, aber erinnert sich an die Worte des großen Generalsekretärs der KP Tho-rez, der häufig dekretierte: man müsse jeden Streik rechtzeitig beenden.

Der Staatschef findet simplifizierte Erklärungen, um die sozialen Konflikte zu analysieren. Sobald sich die französische Wirtschaft erholt hat, die Währung stabilisiert wurde und der Außenhandel positive Momente aufzeigte, träte eine Handvoll unverantwortlicher Abenteurer auf, um das Idyll einer prosperierenden Nation zu bedrohen. Diese Finsterlinge stellen die staatliche Ordnung in Frage und fördern das Chaos. Es sind die gleichen Argumente, die der Staatschef bereite nach der Mai-Juni-Krise 1968 entwickelte. Einerseits wachen gaullistische Erzengel über das Wohl und Weh der Bürger, anderseits drohen die düsteren Gesellen, die Descamps und Seguys, die durch ihre wiederholten Lohnforderungen die Nationalwirtschaft erschüttern.

De Gaulle und seine Ratgeber kennen nur ein Ziel: die Abwertung des Franc aufzuhalten und durch die Stabilität der Währung jenes Klima des Vertrauens wieder zu schaffen, das im November 1968 verlorengegangen war. Gegenwärtig machen sich verstärkte Drohungen gegen den Franc bemerkbar. Die Goldpreise klettern in Paris munter in die Höhe. Die französischen Fluchtkapitalien wurden ungenügend repatriiert. Aus diesen Erwägungen heraus wünscht die Staatsführung die mühsam ausgehandelten Lohnstrukturen zu bewahren.

Die Gewerkschaftszentralen aber verfügen über keine Aktionsfreiheit. Ihre Autorität wird von unverantwortlichen Linkselementen, die das Gehör der Jungarbeiter besitzen, gefährdet. Man bezichtigt die bewährten Arbeiterführer der Schwäche und inszeniert an beliebigen Orten wilde Streiks. So wurde der Arbeitsprozeß in verschiedenen Werkstätten der Automobilwerke Renault und Peugeot durch Tage gehemmt. Es genügt, einen wichtigen Zweig solcher Großbetriebe zu paralysieren, um den gesamten Produktionsprozeß zu stoppen. Diese Maoisten und Castri-sten sind eine absolute Minderheit in den Gewerkschaftsbewegungen. Sie gebärden sich dynamisch und sind mit allen Finessen der sozialen Kämpfe vertraut. Dazu kommt, daß die einstige christliche CFDT einen revolutionären Kurs eingeschlagen hat. Das zwingt die anderen Zentralen, ihre Forderungen aufrechtzuerhalten und diese manchmal zu verstärken. Selbst die ruhige F. O. sah sich entgegen der eigenen Überzeugung verpflichtet, ihren Anhängern den Streik vom 1. März zu empfehlen. Nur die von der CFDT abgesplitterte CFTC, die nach wie vor bewußt christlich firmiert und über Anhänger im lothringischen Mienengebiet verfügt, weigert sich, dieser „Sozialdemagogie“ zu folgen.

Problematischer Streik

Aus den Kohlengruben Lothringens wurden so gut wie keine Arbeitsniederlegungen vermeldet. Jenseits der Perspektiven dieser Lohnkämpfe müssen die politischen Akzente untersucht werden. Zweifellos besteht im französischen Volk eine beachtliche „Malaise“, die weite Kreise der Arbeiterschaft und des Bürgertums erfaßt. In parlamentarischen Demokratien werden solche Unmutsbeweise der Bevölkerung von der oder den Oppositionsparteien aufgefangen und im Parlament zu Angriffen gegen die Regierun? verwendet. Das autokratische System in Frankreich hat den Lebensraum der Parteien eingeengt. Die Opposition hat sich praktisch aufgelöst, verfügt derzeit über keine repräsentativen Persönlichkeiten und erschöpft sich in sterilen internen Polemiken. Die Kommunistische Partei zog sich wiederum in das innere Exil zurück. Der Flirt mit der S. F. I. O. wurde fast gänzlich abgebrochen. Damit verlagert sich die politische Willensbildung. Die Berufsverbände werden mit zusätzlichen Aufgaben belastet. Hinter den Wünschen nach Steuererleichterung und Dezentralisierung, nach eine organischen Sozial- und einer konstruktiven Wirtschaftspolitik verbergen sieh bestimmte politische Aspirationen. Der Bürger möchte tatsächlich an den Geschäften des Staates partizipieren, mitbestimmen und mitentscheiden. Er erwartet, als urteilkräftiges Subjekt behandelt zu werden und nicht als unorganisierte Masse, die nach Laune der Staats-führang in plebiszitärer Form die Optionen de Gaulles bejaht. Die oftmals angepriesene Regionalisie-rung und die Reform des Senates schaffen keine echten Verantwortungen. Das Regime ist seiner Natur nach autoritär orientiert. Bei aller Berücksichtigung der Bürgerfreiheiten tauchen keine Anzeichen auf, daß grundsätzliche Veränderungen bevorstehen. Die Proteste des Mittelstandes am 5. März wurden von der Nation aufmerksam registriert.

Der Generalstreik vom 11. März war für die Gewerkschaften ein Erfolg. Die Parole: „Ich oder das Chaos“ verliert langsam an Charme und Wirkung.

Seit zehn Jahren zeichnen sich zum erstenmal personelle Alternativen in der Mehrheit ab.

Noch niemals stand der Stern Pom-pidous so hoch am Zenit der Popularität wie in den Tagen, da die Erinnerungen an den Mai und Juni 1968 lebendig wurden. Es jpag sein, daß bald ein Reserveerzengel die Dämonen abwehrt und Frankreich jenen inneren Frieden gewährt, den dieses für Europa wichtige Land dringend benötigt.

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