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„Das Ausland hat keine Ahnung”

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Der russische Politiker über die politisch-wirtschaftliche Misere in seinem Land, seine Pläne zur Rettung Rußlands und die

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Der russische Politiker über die politisch-wirtschaftliche Misere in seinem Land, seine Pläne zur Rettung Rußlands und die

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DIEFURCHE: Herr General, an Ihrer Person scheiden sich die Geister. Für die einen scheinen Sie eine Retterfigur zu sein, die in Rußland Ordnung schaffen wird, die anderen furchten Sie als unberechenbaren Machtmenschen. Sehen Sie sich selbst als den kommenden russischen Präsidenten? Alexander Lebed: Ja, ich will der nächste Präsident werden - auf demokratischem Weg, vom Volk gewählt und ohne Gewaltanwendung. Dieses Land braucht mehr denn je einen starken Führer. Zur Zeit herrscht pure Willkür. Nur in einem starken und geordneten Staat können Rußlands enorme Reichtümer sinnvoll genützt werben. Präsident Jelzins Weg führt immer tiefer ins Chaos. Der kranke und schwache Präsident hat schon lange nicht mehr che Zügel in der Hand. In Wahrheit wird das Land von einer Finanz-Oligarchie und dem allmächtigen Anatolij Tschubais regiert. Unsere sogenannte politische Elite besteht aus Hasardeuren, die wissen, daß ihre Zeit bald abgelaufen ist. Daher füllen sie sich noch rasch die Taschen. Nach meiner Wahl zum Präsidenten werde ich mit diesen Mißbräuchen aufräumen.

DIEFURCHE: Haben Sie wirklich genügend Kraft, das riesige Rußland aus der Krise herauszuführen? LEBED: Ich weiß genau, wozu ich fähig bin. Das habe ich mit den Friedensabkommen in Moldawien und in Tschetschenien bewiesen. Für Rußland gibt es nur zwei Alternativen: entweder gelingt es dem Land in friedlicher Weise und aus eigener Kraft die gegenwärtige Misere zu überwinden, oder es schlittert in den Zusammenbruch aller gesellschaftlicher Strukturen, ins totale Chaos. Jelzin hat so viele Fehler gemacht, daß die Zeit nach ihm nur besser werden kann. Diesem abgewirtschafteten Regierungsapparat gebe ich höchstens noch ein Jahr.

DIEFURCHE: Welchen Ausweg aus dem Chaos propagieren Sie? Wie lautet Ihr politisches Programm? LKHKIJ: Die „Russische Volkspartei”, deren Vorsitzender ich bin, wird im nächsten Monat eine Grundsatzerklärung abgeben. Die Quintessenz meiner Politik besteht darin, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die Rußlands Aufschwung hemmen. Die kritische Situation unseres Landes ist eine Folge der pseudo-demokrati-schen Reformen. Wir haben große Worte gehört, aber noch keine entsprechenden Taten gesehen.

DIEFURCHE: Konnten Sie etwas von Ihren politischen VErstellungen umsetzen, während der vier Monate, die Sie im Kreml als Sicherheitsberater Präsident lelzinsfungierten? Lebed: Noch im letzten Dezember habe ich Präsident Jelzin vorgeschlagen, die Initiative zu einer sorgfältig geplanten Verfassungsreform zu ergreifen. An intelligenten Köpfen, die den Präsidenten dabei beraten könnten, fehlt es nicht. Die Superpräsi-dentschaft muß dringend eingeschränkt werden. Alles liegt in der Hand des Präsidenten: die Wirtschaft, NATO-Osterweiteruhg.

DIE STEUERN, die Zölle, die Armee, die Außenpolitik. Diese Machtfülle muß mit der Regierung, dem Parlament und dem Verfassungsgericht geteilt werden. Unsere Gesetzgebung stammt noch aus kommunistischen Zeiten und entspricht nicht mehr den heutigen gesellschaftlichen Realitäten. Das Heer von bestechlichen und schlampigen Bürokraten muß endlich kontrolliert werden. Nach alter russischer Sitte mißachten sie die Vorschriften. 1995 wurden 440 Ukasse des Präsidenten nicht ausgeführt.

DIEFURCHE: Westliche Experten sagen schon ”seit einiger Zeit voraus, daß es in Rußland zu einem wirtschaftlichen Boom kommen wird Davon ist aber jetzt noch wenig zu spüren ... LEBED: Das Ausland hat keine Ahnung, welches Spiel in Rußland gespielt wird. Ist es Volleyball oder Bas-ketball, Fußball oder Rugby? Niemand kennt die Spielregeln. Und dann wundert man sich, daß die Investoren fernbleiben und daß 270 Milliarden Dollar illegal im Westen angelegt worden sind. Fast alle Reichtümer befinden sich in den Händen von Verbrechern. Die Steuerpolitik ist so entartet, daß die Geschäftsleute fast gezwungen sind, Steuern zu hinterziehen. Von 100 Rubeln müssen 99 an den Staat abgeführt werden. Die russische Gesellschaft braucht transparente Regeln, auf die sich die Russen und die Investoren verlassen können. Man kann dem Kapital keine Befehle erteilen. Es fließt dorthin, wo es sicher ist, wo es arbeiten und Profite erzielen kann. Das war schon immer so.

DIEFURCHE: Auch die Spannungen zwischen Moskau und dem Rest des Landes haben Tradition. Es hieß schon immer, Rußland ist groß und der Zar istfern ...

LEBED: Man kann ein so riesiges Land nur zentralistisch regieren. Aber das Zentrum muß ein wirkliches Machtzentrum sein. Moskau ist nur mehr ein geographischer Mittelpunkt. Unter den 89 Regionen besteht ein großes Gefälle. Sie werden nur mehr durch Moskau zusammengehalten. Die separatistischen Tendenzen haben zugenommen. Einige Regionen haben jetzt eigenständige Kontakte mit Ländern wie den USA, Finnland, der Türkei, Japan oder Deutschland angeknüpft. Je schlimmer die wirtschaftliche Lage sich entwickelt, desto mehr orientiert man sich nach außen. Wenn nicht bald etwas geschieht, wird Rußland völlig auseinanderbrechen. Dann kann es zu einem Dritten Weltkrieg kommen. In diesem Krieg wird es keine Sieger mehr geben.

DIEFURCHE: In welchem Zustand befindet sieh die Russische Aimee? LEBEl.):In den letzten drei Jahren haben die Offiziere keinen Sold mehr bekommen. Sie können sich keine neuen Uniformen leisten. Viele verdienen sich durch Waffenverkäufe Geld nebenher. Niemand kümmert sich um die alten Veteranen. Der Tschetschenienkrieg hat viele Soldaten psychisch zerstört. Die Regierung verhält sich ihnen gegenüber schäbig. Diese Menschen sind erst ausgesaugt worden, dann hat man sie weggeworfen.

DIEFURCHE: Was sagen Sie zum Vorschlag der amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright einer gemeinsamen Brigade zwischen Rußland und der NATO? LEBED: Da gibt es noch viele ungeklärte Fragen. Risher kommt mir diese gemeinsame Rrigade so merkwürdig wie ein Klavier vor, das mitten im Wald steht. Warum haben es die Amerikaner so eilig, die NATO zu verändern? Vielleicht stehen die Vorschläge von Mrs. Albright im Zusammenhang mit dem 50. Jahrestag der NATO in zwei Jahren? In der alten Sowjetunion war es auch üblich, sich nach Jahrestagen zu orientieren. Man gab dann die Eröffnung einer U-Bahnstation bekannt, ließ sie für einen Tag in Betrieb, um sie bis zur endgültigen Fertigstellung wieder für ein Jahr zu schließen.

DIEFURCHE: Aus welchem Grund fürchtet Rußland die Osterweiterung der NATO?

LEBED: Diese Frage wurde mir in der letzten Zeit häufig gestellt. Ich denke, daß fast die Hälfte der russischen Bevölkerung gegen diese Erweiterungspläne ist. Die Menschen wurden im Geist des Kalten Krieges erzogen. Rußland hat in diesem Jahrhundert über 70 Millionen Menschen in Kriegen verloren. Es ist heute kein Feind mehr und wird es nie mehr werden. Mir scheint es sinnvoller zu sein, die NATO in ein System umzustrukturieren, in das alle europäischen Staaten integriert werden können. Nur so können wir gemeinsam den neuen Herausforderungen begegnen und den Terrorismus, den Waffen- und Drogenhandel und das organisierte Verbrechen bekämpfen. Rußland ist halb europäisch. Man kann kein Sicherheitssystem in Europa errichten, ohne die russischen Interessen zu berücksichtigen. Europa ist unser gemeinsames Haus.

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