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Die Goitsdiels vor de Gaulle

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Erst mit einigem Abstand zur „Show“ im Elysee-Palast beginnt in Pariser politischen Kreisen so etwas wie eine sachliche Wertung der Erklärungen des französischen Staatspräsidenten. Die unmittelbaren Reaktionen nach der Pressekonferenz tragen vornehmlich den Stempel einer negativen Kritik. Dies war auf die Tatsache zurückzuführen, daß der Präsident der Republik über 900 „Pressestatisten“ ins Elysee eingeladen hatte, ohne ihnen etwas Neues zu sagen — ungeachtet einer wochenlang aufrechterhaltenen Spannung und psychologischen Vorbereitung auf ein „historisches Ereignis“. (Die Anerkennung Rotchinas war ja schon vorher bekannt.)

Die enttäuschten Erwartungen lösten selbst bei regierungsfreundlichen Zeitungen eine nur schlecht verhüllte Verbitterung aus und zwangen gaullistische Politiker — dem Beispiel des Generals folgend — zu dialektischen Formulierungen Zuflucht zu nehmen. In die Enge getrieben, deuteten sie die lässige Omnipotenz, mit der Frankreichs Staatschef über brennende Tagesprobleme hinwegging, als den Reflex einer festverankerten Kontinuität und Stabilität.

Die Gegner des Generals und seines Systems, die der Verfasser befragen konnte, stellten entweder lakonisch fest, daß de Gaulle es diesmal wenigstens vermieden hat, alliierte und befreundete Staaten vor den Kopf zu stoßen, indem er von direkten Angriffen Abstand nahm, oder aber sie vertraten die Meinung, daß der Bogen einer in weiten Schichten der Bevölkerung als unzeitgemäß erkannten Selbstherrlichkeit diesmal in gefährlichem Außmaß überspannt war. Dies werde neues Wasser auf die Mühlen der Opposition schütten und möglicherweise die Konzentration der Anhänger einer echten demokratischen Gewaltenteilung in ungeahnter Weise begünstigen.

In der Tat ist — wie „Le Monde“ schreibt —, die Theorie der absoluten Macht selten mit einer größeren Selbstgefälligkeit, Deutlichkeit und Rücksichtslosigkeit dargelegt worden. Mit der Feststellung, daß in dringenden Angelegenheiten die ungeteilte Staatsautoriät dem vom Volk gewählten Präsidenten zufalle, werde der Ministerpräsident zu einem einfachen Kabinettschef oder im besten Falle zu einem Generalstabschef degradiert. Hier aber erblickt man den Keim einer „mehr oder weniger totalitären Diktatur“. Mit dem Blick auf die Bemühungen der Linksopposition, die in den letzten Wochen die Voraussetzungen einer Verfassungs reform diskutierte, lehnte der General bekanntlich jede einschneidende Änderung der staatlichen Institutionen ab, wobei er durchblicken ließ, daß der Senat und der Nationale Wirtschaftsrat in seinen Augen kaum erwähnenswerte „Faktoren“ seien. Wenn man bedenkt, daß auch im heutigen Frankreich innenpolitische Belange ein weit stärkeres Interesse finden als der gesamte außenpolitische Komplex, kann man sich die zu erwartenden Kettenreaktionen auf den ungeschickt formulierten Machtanspruch, den ein Mann für sich allein erhebt, bereits jetzt ausmalen. Die Anerkennung Rotchinas, die nach wie vor zu den umstrittensten Themen politischer Kreise zählt — die Meinungsunterschiede gehen quer durch die meisten Institutionen und Staatsorgane —, hat an einem praktischen Beispiel illustriert, daß es in Frankreich nunmehr keiner Behörden und geistiger Kollektive bedarf, um. entscheidende Initiativen'; vraheutaeiben oder^ü^brerrisenyidie Orientierung zu bestimmen und den Zeitpunkt zu wählen: Die „große Politik“ ist nun quasi amtlich zum Reservat des Generals erklärt worden, der sich auf das alleinige Mandat des Volkes beruft!

Neben dieser Entscheidung scheint es müßig, darüber zu rätseln, ob es dem Staatspräsidenten bei der Anerkennung Pekings erstrangig darum ging, gleichzeitig einen Schlag gegen Washington zu führen und die Linksopposition im eigenen Lande in Verlegenheit zu bringen, oder — wie die gaullistische Tageszeitung „La Nation“ andeutete, vornehmlich darum, die nuklearen Versuche Frankreichs in der Südsee durch „offizielle Beziehungen mit den wichtigsten Mächten dieses Weltteils“ zu ermöglichen beziehungsweise zu erleichtern. Auch Europa, dessen politisches Zusammenwachsen unter den bekannten Vorbehalten General de Gaulles heute wünschenswerter erscheint als in der Vergangenheit, ist nach der Pressekonferenz um keine Hoffnung reicher geworden, denn es steht in enger Verbindung mit der atlantischen Konzeption des französischen Staatspräsidenten, die ihrerseits von den Partnern Frankreichs in der EWG als unannehmbar zurückgewiesen wird. Der ehemalige Ministerpräsident Paul Reynaud faßt die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen de Gaulle und den Gemeinschaftspartnern in fünf Punkte:

• Integration der nationalen Streitkräfte in der NATO;

• Beitrag Frankreichs im Rahmen der NATO-Strategie;

• Frankreichs Beziehungen zu den USA;

• Aufnahme Großbritanniens in den Gemeinsamen Markt;

• atlantische Assoziierung im Sinne Kennedys.

Aber selbst für den Fall einer Einigung der Sechs über die meisten dieser Probleme sieht Paul Reynaud schwarz für die europäische Zukunft, da die fünf übrigen Länder über die dem General vorschwebende bloße „Zusammenarbeit“ (Cooperation) hinauszugehen entschlossen seien und einen kopflosen europäischen Torso ablehnten.

Im großen und ganzen hat die diesjährige Elysee-Veranstaltung — da es keine „Überraschungsbombe“ wie im Vorjahr gegeben hat, und da sie keine neuen programmatischen Gesichtspuntke eröffnete — kein starkes Echo in der französischen Öffentlichkeit ausgelöst. Die Sonntagsblätter hielten sie kaum noch für erwähnenswert. Für den Mann auf der Straße hatte bereits 34 Stunden nach der Pressekonferenz der Innsbrucker Olympiasieg der Schwestern Christine und Marielle Goitschel größeres Interesse als alle politischen Probleme. Die nationale Freude über das sportliche Ereignis hatte den General in den Hintergrund gedrängt...

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