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Ein Mann mit Zukunft

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Die westliche Welt ist reich in Reichtümern aller Art. Was ihr fehlt, sind Politiker, die diesen Reichtum gewandt, klug und zäh in die Waagschale der Weltpolitik zu werfen wissen. Der russische Erdsatellit und die Vorgänge in den Satellitenstaaten des russischen Imperiums haben die Unruhe im Westen gesteigert. Offensichtlich fehlt es an Steuermännern. Einige wenige berühmte Ausnahmen lassen diese Mangelerscheinung ins helle Licht treten. Da erregte es nun nicht geringes Aufsehen, als bei dem letzten Parteikongreß der Labour Party das vielleicht gefürchtetste Enfant terrible unter den in Freiheit befindlichen Politikern der westlichen Welt (vergleichbar ist ihm vielleicht nur Djilas, der Exfreund Titos), Aneurin Bevan, ein politisches Bekenntnis zur englischen Staatskunst ablegte, das weit über den Personfall hinaus Aufmerksamkeit verdient. Es zeigt: die freie Welt besitzt auch im Politischen Reserven. Ungeahnte, unverhoffte Reserven. Ihre Verteidiger morgen können gewonnen werden aus ihren Feinden von gestern. Der verschlungene Weg Bevans vom linksradikalen Agitator und Parteipolitiker zum Staatsmann der freien Welt wird heute bereits in Afrika und Asien intensiv beobachtet. Grund genug, ihn auch bei uns im Auge zu behalten. „Die Furche”

Es ist erstaunlich, wie beliebt dieser so oft kritisierte -Aneurin Bevan ist. Sogar die Konservativen können sich einer gewissen Sympathie für dieses „Enfant terrible” der britischen Labour Party nicht erwehren, obwohl er doch der Vertreter einer sehr weitgehenden Ver- staatliehungspolitik ist. Seine Feinde oder, besser gesagt, seine Neider sitzen in erster Linie in den Reihen seiner eigenen Partei, insbesondere in der Leitung der Labour Party, wo man nicht mit Unrecht fürchtet, daß er, wenn der Augenblick kommt, die Macht rücksichtslos an sich reißen wird. Noch fühlt Bevan sich im Schatten — gewissermaßen als graue Eminenz — viel sicherer. Unangenehme Probleme stehen bevor, und es ist klüger, dem augenblicklichen Parteichef Hugh G a i t s k e.l 1 unpopuläre Entscheidungen zu überlassen. So enthielt sich Bevan zum Beispiel während der Suezkrise in bezeichnender Weise scharfer, ausfälliger Angriffe auf Eden und die Konservativen, wie es Gaitskell und andere glaubten tun zu müssen. Bevan hat. Fingerspitzengefühl für herrschende Stimmungen im Lande. Er spürte daher im Herbst des vergangenen Jahres genau, daß die öffentliche Meinung in England zum größten Teil für eine Intervention gegen Aegypten war. So beschränkte er Sich — er, der doch in seinen Ansichten der entschiedenste Gegner Edens hätte sein sollen — auf eine milde Kritik uiid Vorwürfe über die frappante Unfähigkeit der britischen Streitkräfte und ihren Mangel an Schlagkraft.

In der Außenpolitik — Bevan, als Nummer 2 in der Parteihierarchie, gilt ja als der Außenminister im sozialistischen „Schattenkabinett” — stehen für die britische Bevölkerung gegenwärtig zwei Probleme im Vordergrund: die Erhaltung des Weltfriedens und Großbritanniens möglicher Beitritt zum Gemeinsamen europäischen Markt. In beiden Fragen ist die Mehrheit des Volkes, wie so oft, für den bequemeren, kurzsichtigen Weg. Selbstverständlich lieber eine Einigung mit Rußland um jeden Preis als einen Atomkrieg; und was den europäischen Markt betrifft, so ist man hier in England konservativ. Warum Experimente machen, wenn es einem doch allgemein ganz gut geht? Die engeren Beziehungen zum Commonwealth wegen einer unsicheren Heirat mit Europa gefährden? Niemals. Nun, Bevan versteht es, sich in beiden Fragen auf der Seite der allgemeinen Volksmeinung zu halten, auch wenn er dadurch zum Teil seinen eigenen Ueberzeugungen zuwiderhandeln sollte. Schließlich sind es höchstens noch zweieinhalb Jahre bis zur nächsten Wahl, und die Sozialisten sind um jeden Preis entschlossen, dabei den Sieg davonzutragen.

Rechtsstehende Kreise werfen Aneurin Bevan Neutralismus vor. Sie finden, er sei zu radikal in seiner Stellung gegen die Vereinigten Staaten und sei sich zuwenig der von der Sowjetunion und dem Kommunismus drohenden Gefahr bewußt. So griff er zum Beispiel heftig die jüngsten amerikanischen Maßnahmen im Nahen Osten an, schwieg aber zur selben Zeit beharrlich über den Ernst der Situation, wie er durch die Waffenlieferungen der Russen an Syrien, Aegypten und Jemen beschworen wurde. An diesem Vorwurf ist also sicher etwas Wahres dran, denn, wenn man Bevan auch keinen Kommunisten nennen kann, so fühlt er sich doch intuitiv mit den Machthabern im Kreml „verwandter” (ähnlich wie einem ein mißratener Bruder letzten Endes dennoch nahesteht) als mit den „imperialistischen Kapitalisten” im Westen, wenn sich diese auch heute „besser benehmen” als früher. Das alles ist zu verstehen, wenn man weiß, daß Bevan unter den prominenten Mitgliedern seiner Partei wohl am ehesten als Marxist zu bezeichnen ist.

Die Idee des Gemeinsamen europäischen Marktes ist in England nicht sehr populär. Und so hat sich Bevan in letzter Zeit auch bemüßigt gefühlt, die Konservativen wegen ihrer europafreundlichen Politik heftig anzugreifen. Bisher hatte sich die Labour Party immer sehr positiv dieser Idee gegenübergestellt, wenn sie sich auch in letzter Zeit mit offiziellen Aeußerungen über dieses Problem sehr zurückhielt, besonders, seitdem die Regierung M a c M i 11 a n die Europaidee auf ihre Fahnen geschrieben hat. Bevan versucht nun, das Steuer herumzureißen, um — das scheint evident — auf die Stimmung des Volkes einzugehen und bis zur nächsten Wahl an Boden zu gewinnen. Bevan erklärt jetzt, zum Erstaunen seiner Parteikollegen, rund heraus, die europäische Freihandelszone sei eine überholte Idee aus dem 19. Jahrhundert. Der ganze Plan eines Gemeinsamen europäischen Marktes sei nichts anderes als eine Flucht aus dem Fiasko, zu dem es nur gekommen sei, weil die Sozialisten ihre Konzeptionen der Planwirtschaft nicht durchführen konnten. „Sozialisten können nicht”, so meint Bevan, „auf der einen Seite Planwirtschaft fordern und auf der anderen die Idee eines freien wirtschaftlichen Wettbewerbes gutheißen.” Damit hat er wohl einen sehr wunden Punkt berührt, der vielen seiner Parteikollegen Gewissenskonflikte bereiten wird. Wie in so vielen Ländern, zeigen sich auch hier in England die Sozialisten nicht sehr elastisch. So paradox es klingen mag: aus revolutionären sind allmählich konservative Bürokraten geworden, die nicht die Kraft besitzen, sich von überholten marxistischen Wirtschaftsideen zu lösen, obwohl sie innerlich spüren, daß mit diesen etwas nicht ganz stimmen kann. Bevan hat die Ehrlichkeit, dieses Dilemma klar aufzuzeigen, auch wenn es seine Partei in Verlegenheit bringt. Er weiß genau, daß die Masse der Wähler ein offenes Wort liebt, und sieht damit seine Popularität steigen.

Disziplin ist Aneurin Bevan nie leicht gefallen. Er war immer ein Außenseiter. Sein Vater war ein Bergarbeiter in Südwales. Bevan war eines von 13 Kindern und kein guter Schüler; schon mit 14 Jahren begann er im Bergwerk zu arbeiten. Er war ein Stotterer. Und las daher lieber, als er sprach. Daß dieser Autodidakt, dieser Stotterer mit seiner hohen Stimme einer der bekanntesten Versammlungsredner wurde, das zeigt schon die unerhörte Energie und Vitalität, die in dem heute 59jährigen stecken.

Zuerst stand er unter der Menge bei Versammlungen auf der Straße, ohne an Diskussionen teilzunehmen. Der Bibliothekar der Arbeiterbücherei gab ihm Karl Marx zu lesen. Zu Hause saß er allein und lernte lange Shakespeare-Stellen auswendig, sagte sie laut auf, bis er sie ganz beherrschte. Dann begann er, bei Straßenversammlungen Einwürfe zu machen; langsam wurde er Gewerkschaftler und dann Gewerkschaftsfunktionär. Ein Streik im Jahr nach dem ersten Weltkrieg macht ihn in ganz Südwales bekannt; seine Gewerkschaftskollegen sammelten Geld, um ihn nach London zu einem Kurs zu schicken, und langsam wurde er zu einer nationalbekannten Persönlichkeit, bis man ihn schließlich 1929 ins Parlament wählte. Seine Karriere als Abgeordneter bis zum Jahre 1945 ist charakterisiert dadurch, daß er einmal — im Jahre 1939 — sogar aus der Partei ausgeschlossen wurde, daß er vorher der I. L. P., der Unabhängigen Labour Party angehörte, und dann 1936 ein begeisterter Anhänger der sozialistischen Liga des Sir Stafford Cripps war (auch einer linksstehenden Bewegung innerhalb der Labour Party), mit der er 1939 ausgeschlossen wurde. Bevan war aber nach ein paar Monaten wieder in der Partei. Es ist interessant zu beobachten, daß Bevan zwar immer wieder seiner kritischen Meinung deutlichen Ausdruck verleiht, aber doch wieder alles dazu tut, sich in der Partei durch seine Beliebtheit bei den Arbeitermassen unersetzlich zu machen.

Bevan übt im britischen Parlament nicht nur einen entscheidenden Einfluß auf die Abgeordneten seiner Partei aus, sondern wird auch in den Reihen der Konservativen geschätzt und wegen seiner scharfen Zunge gefürchtet. Ohne Zweifel ist er eine größere Persönlichkeit als der intellektuelle Schullehrer Gaitskell, der gegenwärtig die Parteiführung inne hat. Und sollte die Labour Party 1960 wieder an die Regierung kommen, so dürfte Bevan wohl über kurz oder lang Premierminister werden.

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