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Mohammed V. „Kaiser Joseph“ von Nordafrika

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Trotz zweier Katastrophen, die Marokko seit Herbst vorigen Jahres nachhaltig erschüttert haben — zuerst die, für viele wohl lebenslängliche Lähmung von 10.000 Personen, rund tun Meknes ansässig, nach dem Genuß verfälschten Speiseöls, und dann die totale Vernichtung der Hafenstadt Agadir in wenigen Sekunden durch das Erdbeben vom 29. Februar, dem mehr als 12.000 Einwohner zum Opfer fielen —, mehren sich die Anzeichen, daß nicht nur die wirtschaftliche Stagnation überwunden, sondern auch die politische Lage in sichtlicher Aufwärtsbewegung ist.

Daß die seit Anfang 1959, durch die Spaltung der Istiqlal-Partei in einen traditionellen, bürgerlich-konservativen und einen progressisti-schen, sozial-reformistischen Flügel, eingetretene innerpolitische Spannung überwunden und ein offener Zusammenprall der feindlichen Kräfte verhindert wurde, ist das alleinige Verdienst König Mohammed V. Er bewies ein überraschend starkes Feingefühl für die richtige Handlung im rechten Augenblick, größte Hellhörigkeit für die echten Nöte und Wünsche seines Volkes, und selbst seine Passivität, die der europäische Beobachter bis zum Mai dieses Jahres festzustellen glaubte, entpuppte sich als politische Meisterschaft des klugen Abwartens. Als der König Ende Mai die Regierung Ibrahim entließ, die er zu Weihnachten 1958 berufen hatte und die sich fast ausschließlich auf das Wohlwollen der Gewerkschaft und die Sympathie der wenig homogenen, besitzlosen Bevölkerung der drei Großstädte Casablanca, Rabat und Tanger stützen konnte, hielt alles den Atem an und- fürchtete einen bürgerkriegsartigen Kampf um die Macht: er trat nicht ein, im Gegenteil, die Ruhe im ganzen Lande ist seit der Übernahme der Regierungsgewalt durch den König und seinen ältesten Sohn, Kronprinz Mulay Hassan, nicht mehr gestört worden — und das, ohne Gefängnisse mit politischen Gegnern zu füllen, ja ohne jegliche Sanktionen gegen die Opposition, deren Zeitungen ungehindert die politische Linie Mohammeds kritisieren dürfen.

Jede Regierung wird nach ihren sichtbaren Erfolgen beurteilt, und deshalb schnitt die Gruppe Ibrahim-Bouabid für ihre 17monatige Geschäftsführung schlecht ab, nicht nur bei ihren Gegnern. Es wäre aber ungerecht, dieser politischen Gruppe den sittlichen Ernst abzusprechen oder sie als machthungrige Politiker hinzustellen — ihre Reformpläne entsprangen ihrem nationalen „Sozialismus“, ihrer intellektuellen Verbesserungssucht —, aber ihre Rechnung konnte gar nicht aufgehen, weil sie die innere Struktur des Landes verkannten. Auch am Ende des fünften Jahres seiner Unabhängigkeit ist für 11,5 Millionen Marokkaner nur die Person des Königs, der scherifische Thron, der einzig verläßliche „gemeinsame Nenner“ der in sich reichlich verschiedenen Stämme und Provinzen zwischen Rif und Sahara. Die Schwäche der nun oppositionellen UNFP („Nationale Union der Volkskräfte“), die Ibrahim-Bouabid das Rückgrat gab, war vor allem das Ausbleiben jedes Echos bei der Landbevölkerung, die fast 80 Prozent der Bevölkerung“ darstellt.

KÖNIGSDIKTATUR ALS ÜBERGANG Es wäre aber ebenso falsch, zu glauben, daß nun seit Mai ein erzkonservatives, gar reaktionäres Regime am Werke sei. König Mohammed überraschte stets durch seine fortschrittliche Haltung, und viele Grundsätze der „progres-sistischen“ Partei wurden von ihm in sein Regierungsprogramm aufgenommen — womit er sowohl den Zeichen der Zeit Rechnung trug als der Opposition den demokratisch-republikanischen Wind aus den Segeln nahm. Als er Ibrahim nicht durch einen anderen Politiker ersetzte, sondern selbst, mit dem Kronprinzen als stellvertretenden Regierungschef, die Führung des neuen Kabinetts übernahm, kündete er an, entschlossen zu sein, dem Lande innerhalb der kommenden zwei Jahre eine Verfassung zu schaffen und die derzeit noch absolute in eine konstitutionelle, demokratisch verankerte Monarchie zu verwandeln. Vor kurzem setzte er bereits einen Ausschuß für die Erstellung dieser Verfassung ein, dem die Vertreter fast aller sozialen Schichten angehören — nur die Opposition weigerte sich, den angebotenen Platz in diesem Gremium einzunehmen. Während der König die auszuarbeitende Verfassung dem Volke zur Abstimmung vorlegen will, wünscht die UNFP zuerst die Wahl einer konstituierenden Nationalversammlung durch das Volk, die dann eine solche Verfassung auszuarbeiten hätte. Trotzdem ist kaum anzunehmen, daß die Opposition nun für Jahre nur die passive Rolle der Kritik zu spielen gedenkt, sondern zu gegebenem Zeitpunkt bereit sein könnte, die vom

König unverändert gereichte Hand zu einer echten „Nationalen Union“ zu ergreifen.

König Mohammed V. konnte in den letzten Monaten schon einige Erfolge erzielen, vor allem das Abkommen mit Frankreich über den sofort zu beginnenden Abzug der restlichen hier stationierten Truppen von zirka 20.000 Mann. Ab Herbst 1961 bis 1963 wird Frankreich nur seine Fliegerschulen auf marokkani- . schem Boden behalten, die jedoch ihres militärischen Aspektes entkleidet werden. Da auch die USA schon im Dezember 1959 die Liquidation ihrer fünf Flugbasen gleichfalls bis 1963 zugesagt hatten, bleibt nur ein Abkommen mit Spanien in gleicher Frage noch zu schließen. Als außenpolitischer Erfolg ist auch die hervorragende Rolle der 3500 Marokkaner innerhalb der UN-Truppen im Kongo, die Berufung ihres Kommandanten, General Kettani, zum Re-organisator der Kongo-Wehrmacht anzusehen. Nach marokkanischer Auffassung war die Mehrzahl der mauretanischen Stämme bis 1912, der Errichtung des französisch-spanischen Protektorates über Marokko, dem Sultan tributpflichtig, und auch heute noch wird Mohammed V. als geistiges Oberhaupt des Islams bei der mauretanischen Bevölkerung anerkannt.

DAS VERLORENE WIRTSCHAFTSPARADIES TANGER

Wichtiger als die politische Problematik erscheinen die wirtschaftlichen Erfolge, die Marokko in den vergangenen Monaten erzielen konnte und von denen letztlich alles abhängen dürfte. Der frühere Wirtschaftsminister Bouabid hat sich ursprünglich geweigert, die letzte Abwertung des französischen Franc, Ende 1958, mitzumachen und damals Maßnahmen eingeleitet, die in der Folge einem „de-facto“-Austritt Marokkos aus der Franc-Währungszone gleichkamen. Dies führte nicht nur zu einer Massenflucht der liquiden Kapitalreserven, sondern auch zu einer Minderung der Konkurrenzfähigkeit marokkanischer Produkte auf dem Weltmarkt. Erst Mitte Oktober 1959 war er endlich überzeugt, daß Marokko diese Abwertung nachholen müsse, und verband sie mit einer Währungsreform, durch Einführung des Dirham für 100 marokkanische Franken. Dieser Beschluß trägt nun sichtlich Früchte, denn einerseits konnte eine Heimkehr des marokkanischen Fluchtkapitals festgestellt werden, anderseits erfuhren die marokkanischen Exporte einen fühlbaren Auftrieb: im ersten Halbjahr 1960 lag der Ausfuhrerlös 15 Prozent über jenem der Vergleichsperiode 1959 — und das bei Abzug des Mehrerlöses, den die verspätete zwanzigpro-zentige Abwertung automatisch nach sich zog. Aber auch die Einfuhren hoben sich um gleiche 15 Prozent, woraus für ein Entwicklungsland das Steigen des Konjunkturpegels bewiesen werden kann. Trotz der Flaute am Welterzmarkt erhöhten sich Produktion und Absatz verschiedener Bergbauprodukte; neue, vielversprechende Vorkommen wurden festgestellt, so vor allem ein Erdgasvorkommen von 800 Millionen Kubikmeter bei Essaouira (früher Mogador), das erweiterte Voraussetzungen für die Industrialisierung des Landes bietet. Allerdings will der neue, erst in seinen Grundzügen bekannte Fünfjahrplan sein Augenmerk nicht nur auf die Industrialisierung, sondern mehr noch auf Modernisierung und Rationalisierung der Landwirtschaft lenken.

Die Arbeitslosigkeit ist immer noch groß ir den Städten, aber verschiedene Industriewerke sind im Aufbau, so ein chemischer Komplex bei Safi (Shell), eine Großraffinerie in Mohammedia (ex-Fedala) durch die italienische AGIP, die auch in Marokko — bisher noch erfolglos — nach Erdöl bohrt. Vor den Toren Casablanca erstehen neue Fabriken, so ein Montagev, rk der Simca/Fiat, und alle arbeitsintensiven Vorhaben genießen die uneingeschränkte Hilfe der Regierung. Der Währungsreform mußte allerdings der Sonderstatus von Tanger, als freier Handels- und Devisenmarkt, geopfert werden, was zu einer noch nicht behobenen Stagnation führte, die dort mehr die erwerbslos gewordene marokkanische Bevölkerung denn die europäischen Inhaber von 600 Firmen und 20 Banken traf, die seit Jahresanfang liquidierten, um bis 19. April, der Eingliederung Tangers ins marokkanische Wirtschaftssystem, ihr Kapital ins Ausland zu bringen. Soeben verkündete Rabat ein Hilfsprogramm, das Tangers Position als Hafen an der meistbefahrenen Meerenge der Welt, aber auch als touristisches Zentrum ausbauen soll.

Das Bemühen um eine politische Stabilisierung und die deutliche Aufwärtstendenz der Wirtschaft lassen die Hoffnung zu, daß sich auch das Auslandskapital in naher Zukunft stärker für die gegebenen Anlagemöglichkeiten interessiert, die auch die europäische Wirtschaft interessieren müßten, um so mehr, als Marokko gerne bereit ist, 50 Prozent des Kapitals und damit des Risikos auf sich zu nehmen.

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