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Nur Menschenrechte

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Bis vor einiigen Jahrzehnten haben es alle für natürlich und selbstverständlich gehalten, daß die öffentlichen Ämter gebildeten Menschen anvertraut wurden, weil es ihre Sache war, das öffentliche Leben zu lenken und auch mit seinen Problemen fertig zu werden. Man hielt das nicht für ein Vorrecht, sondern für eine Aufgabe und für eine Notwendigkeit, mehr für eine Pflicht als für ein Recht. Diese Aufgabe war von den Gebildeten nicht etwa auf Grund einer politischen Umwälzung oder eines ihnen zustehenden Anspruchs oder infolge einer Eroberung übernommen worden, sondern kraft der Natur der Dinge und ohne Einspruch von irgendeiner Seite. Im übrigen fehlte es auch an einer förmlichen Abgrenzung der beiden Klassen der Gebildeten und der Ungebildeten (wenn wir sie überhaupt so bezeichnen wollen). Da allen die gleichen bürgerlichen und auch politischen Rechte zuerkannt worden waren, stand der Übergang von der zweiten zur ersten Klasse vielmehr immer offen, wenn die Erfordernisse wirklicher Befähigung vorhanden waren.

Nach und nach hat sich dieser Zustand jedoch — vor allem in einigen Ländern — durch einen gewissen Druck der ungebildeten Massen verändert, die in zunehmendem Maße Macht forderten und erlangten, ohne auf der anderen Seite Widerstand oder Gegenwehr anzutreffen, wo sie im Gegenteil ohne Schwierigkeiten ihre eigenen Anführer fanden. In dem auf und ab der Geschichte hat das zuweilen dazu führen können, daß mancher Irrtum berichtigt und manche Ungerechtigkeit ausgeglichen wurde; oft hat dieser Druck aber auch revolutionären Charakter angenommen und die Grundlagen der sozialen Ordnung durch den offen erklärten Vorsatz bedroht, die Vorherrschaft und Diktatur des sogenannten Proletariats zu begründen, das heißt der ungebildeten oder

weniger gebildeten Schicht. Jeder weiß, daß diese Drohung in vielen Ländern schon in die Tat umgesetzt worden ist, auf vielen Ländern lastet und die Freiheit und Grundrechte der Bürger in Frage stellt. Wenn sich ein Kulturstaat heute dieser Gefahr ausgesetzt sieht, so liegt die Ursache dafür, meiner Ansicht nach, in der Erscheinung, die man die Abdankung der Kultur nennen kann. Man hat das richtige Prinzip von der Gleichheit der Beehre in falscher Weise ausgelegt, als ob es Gleichheit der Fähigkeiten und der Aufgaben bedeute. In Wirklichkeit folgt aus jenem Prinzip, daß alle menschlichen Wesen in ihrer physischen und moralischen Integrität gleich geachtet werden müssen, nicht aber, daß Sie die gleichen Fähigkeiten besitzen. Schon Aristoteles hat mit Becht gelehrt, daß die Menschen nach ihren Verdiensten behandelt werden müßten (kat'axian) und daß das Kriterium der Gerechtigkeit verletzt werde, wenn bei ungleichen Verdiensten gleiche Behandlung erfolge. Gerade das ist aber geschehen, als man zum Beispiel die Analphabeten mit gleichen Beehren zum Wahlrecht zugelassen hat, von dem sie vorher ausgeschlossen waren. Im übrigen glaube ich, daß sich das Prinzip der Allgemeinheit des Wahlrechts auf diesem Gebiet aufrechterhalten ließe, wenn man den Wert der Stimme der Ungebildeten oder kaum Gebildeten dadurch einschränkte, daß man ihnen nur eine Quote der zu wählenden Vertretung zuwiese, wogegen den Inhabern eines Studientitels (zum Beispiel das Lehrzeugnis einer Mittelschule oder ein gleichwertiger Titel) eine proportional höhere Quote vorbehalten werden müßte.'

Wenn in einem Lande die Zahl der Analphabeten beträchtlich ist und die Zahl der Halbanalphabeten, die ebenfalls eine leichte Beute für politische Aufwiegler sind, noch viel größer, so sind die Geschicke dlieses

Landes offenbar zum großen Teil der Unwissenheit anstatt der Bildung anvertraut. Aber dagegen erhebt sich kaum ein Protest: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ertragen die gebildetsten Menschen das geltende System; da es ihnen verwehrt ist, ihre einige Ideen wirksam für das öffentliche Wohl, zu verwerten, halten sie sich lieber vom politischen Leben fem.

Ein analoger Verzicht auf die Vorrechte der Kultur hat sich auf einem anderen Gebiet aus der gleichen irrtümlichen Auslegung der Idee der Gleichheit vollzogen. Nach der Annahme des Grundsatzes, daß alle Völker, auch die wilden und barbarischen, das gleiche Recht auf Freiheit haben, haben sich die zivilisiertesten Staaten, die jenen Völkern das Rüstzeug und das Licht der Kultur gebracht hatten, indem sie sie von ihren Plagen heilten und ihren Lebensstandard erhöhten, von dort vertreiben lassen, oder sie haben sich freiwillig zurückgezogen, und so ihre Aufsähe — wir könnten auch sagen — Mission — als Organe des Fortschritts unterbrochen. Die Unabhängigkeit, die mit unbedachtem Großmut sogar solchen Völkern gewährt wurde, die unfähig sind, sie wirklich zu nutzen, hat indes in verschiedenen Ländern einen anarchieähnlichen Zustand geschaffen, zum Teil mit blutigen Ausbrüchen wilden Rassenhasses. Ptetro Bonfante (neben Vitforio Scialoia vielleicht der größte italienische Jurist) hat scharfsinnig bemerkt, die europäische Krise beruhe auf der Tatsache, daß Europa großzügig seine Kultur an andere Völker ausgeteilt habe; er hat die Prognose gestellt, daß jene Völker mit ebendenselben Mitteln gegen Europa vorgehen werden, die ihnen vom ihm beliefert worden sind. Ebenso schwerwiegend und beklagenswert ist die Tatsache, daß auch in der Organisation der Vereinten Nationen, die doch den stärksten Schutz für die menschliche Kultur darstellen müßte, die Vorrechte der Kultur in Vergessenheit geraten sind. Bekanntlich hat diese Organisation schon bei ihrer Gründung entgegen ihrer eigenen Satzung eine absurde Hierarchie unter ihren Mitgliedstaaten eingeführt, als sie fünf Staaten als permanent members of the Security Council (von denen einige die Grundrechte der Menschen offensichtlich mit Füßen treten) ein Vorrecht gewährte und andere, selbst sehr zivilisierte Staaten zu dauernder Unterlegenheit verurteilte. Darnach hat diese Organisation den Fehler begangen, in ihren Schoß auch Staaten, die kaum erst der Barbarei entwachsen waren, aufzunehmen und ihnen die gleichen Bechte wie den legitimen und hochzivilisierten Staaten zu gewähren. Aus einem falsch verstandenen Gleichheitsprinzip bat man noch einmal Staaten, die nicht in der Lage sind, sie zu erfüllen, mit höchst wichtigen Aufgaben betraut. Da sich die Zahl der in diese Organisation aufgenommenen Staaten ohne nennenswerte Zivilisation und ohne rechtmäßige Verfassung stark vergrößert hat und weiterhin zunimmt, ist auch die Gefahr immer größer geworden, daß die Beschlüsse dieser 'Organisation die internationalen Beziehungen stören, anstatt sie in gerechter Weise zu garantieren und daß sie vielleicht auch den Weltfrieden aufs Spiel setzen.

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