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Sozialreform auf Raten?

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Der Ministerausschuß des Europarates hat eine Europäische So- zialcharta angenommen und am 18. Oktober zur Unterzeichnung aufgelegt.

In der Präambel gehen die Unterzeichneten Mitglieder von der im Jahre 1950 Unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten aus, mit welcher die Mitgliedsstaaten ihren Völkern bestimmte Rechte und Freiheiten zusicherten, die auch’ voft sozialem Belang sind und zugleich Veranlassung darstellen, den Lebensstandard der jeweiligen Bevölkerung zu verbessern.

In neunzehn Artikeln wird vom Europarat — gleichsam in einer abnehmenden Abstraktion gegenüber den kategorialen Forderungen der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten — den Mitgliedsstaaten die Übernahme einer Reihe von sozialen Verpflichtungen empfohlen und zum Teil sogar auferlegt.

Nun wird aber die Sozialcharta nicht als Ganzes verstanden. Einzelnen Artikeln wird eine besondere Qualität zuerkannt. Dabei handelt es sich um fünf Artikel — von neunzehn —, deren Annahme als verpflichtend erklärt wird. Die Annahme der anderen Artikel wird dem Wohlwollen der einzelnen Parlamente empfohlen, wenn auch verlangt wird, daß insgesamt zehn Artikel anzunehmen sind.

Zu jenen Artikeln, die aus einer Auswahl von sieben angenommen werden müssen, gehören das Recht auf Arbeit, das Vereinigungsrecht, das Recht auf Kollektivverhandlungen, auf soziale und ärztliche Hilfe, das Recht der Familie und der Wanderarbeiter. Anderseits scheint es den Verfassern der Charta von geringerer Bedeutung, ob etwa das Recht auf angemessene Entlohnung verpflichtend übernommen wird oder nicht.

Die Tradition in der Arbeitswelt mancher Vertragsparteien mag Anlaß gewesen sein, die Charta hinsichtlich ihres verpflichtenden Charakters etwas beweglich zu halten. Anderseits ist aber durch die Konstitution von Rechten minderer Qualität, die nur in einem im Belieben der Vertragsparteien gelegenen Auswahlsystem übernommen werden müssen, nicht nur eine Diskriminierung bestimmter sozialer Grundrechte vorgenommen worden, sondern auch eine Harmonisierung der sozialen Bedingungen im Bereich der Länder des Europarates unmöglich. Wenn Europa politisch ein Ganzes und, im Rahmen der Perfektionierung der wirtschaftlichen Integration, zu einem Wirtschaftsraum mit weithin uniformen Wirtschaftsverfassungen und Wirtschaftsbedingungen umgestaltet werden soll, kann auch die Sozialreform nicht als Res privata angesehen werden und in Art und Umfang dem Belieben jedes einzelnen Staates überlassen bleiben. Das „Europa der Vaterländer” im Sinn der Formel de Gaulles ist nicht als ein Europa zu verstehen, in dem in jedem einzelnen Land durchaus verschiedene soziale Verfassungen herrschen, wenn auch unbestritten bleiben muß, daß die Sozialverfassung mit der Ökonomischen Situation des jeweiligen Landes abzustimmen ist. Solange beispielsweise das Je-Kopf-Einkommen in den einzelnen Ländern außerordentliche Unterschiede aufweist, wird eine vollendete soziale Harmonisierung unmöglich sein.

Der Europarat ist der schwächste der politischen Integrationsversuche auf europäischem Boden. Trotzdem, wenn nicht gerade deswegen, hat es das Straßburger Gremium unternommen, eine Egalisierung der europäischen Lebensbedingungen zumindest anzubahnen und die Sicherung eines europäischen Mindestlebensstandards in Angriff zu nehmen. Auf diese Weise wird die Lösung der sozialen Frage aus ihrer nür-natlönalen Vrtėngung ‘hčrausge- lost und als eine europäische Aufgabe erklärt.1,1 Gleichzeitig ” Wir2f auf diese Weise deklariert, daß Europa nicht nur ein politisches Phänomen ist oder als eine geschäftliche Kooperation verstanden werden muß (als „Europa der Geschäfte”), sondern durchaus den Charakter einer Großgesellschaft hat, die auf lange Sicht in sich nicht jene unerträglichen sozialen Differenzen aufweisen darf, wie sie heute immer noch beispielsweise zwischen Süditalien (dem Menschen-Maschinen-Lkferanten Mitteleuropas) und etwa der Schweiz bestehen.

Die politischen Modelle stimmen keineswegs immer mit den Sozialmodellen überein. Diese werden erst spät, wenn überhaupt, mit den politischen Modellen abgestimmt. Man konnte das am Beispiel der Französischen Revolution sehen, deren Sozialpraxis keineswegs den konfusen und wortreichen politischen Deklamationen entsprach, in denen ungemein viel von „Freiheit” die Rede gewesen ist, ohne daß man gewillt war, diese Freiheit auch zum Rang einer sozialen Qualität zu erheben. Die Europäische Sozialcharta ist ein erster Versuch — trotz aller Mängel als Folge der Fülle von Kompromissen, die getroffen werden mußten —, über die differenten Auffassungen der einzelnen Länder und der sozialen Großgruppen hinweg so etwas wie eine Sozialverfassung, wenn auch nur in kategorialer Form, zu proklamieren. Von den Menschenrechten ist viel, allzuviel, die Rede. Für viele handelt es sich nur um einen Katalog abstrakter Rechte. Was nottut, das sind jedoch praktikable Anwendungsformeln. Die Sozialcharta bietet solche Formeln, die geeignet sind, ihren Niederschlag in einer allgemeinen, in einer europäischen Wohlfahrt zu finden.

Österreich ist ein Land, das dank der Koalition der sozialen Großgruppen eine relativ soziale Harmonie aufweist. Kein Allzuviel an Reichtum und kein Allzuviel an Armut. Vom Anbot des Europarates, sich aus dem Artikelkatalog vo.i neunzehn sozialen Grundrechten in Form der Übernahme derselben in die soziale Gesetzgebung zu bedienen, sollte reichlich Gebrauch gemacht werden.

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