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Die Europäische Union vor der größten Erweiterung ihrer Erfolgsgeschichte.

Die Wirklichkeit und der Traum sind unsere Ammen. Aus ihren nieversiegenden Brüsten trinken wir Durst, - den unstillbaren, der uns am Leben hält.

Christine Busta

Der frühere langjährige Wiener Hochschulseelsorger Joop Roeland hat dieser Tage in einer Predigt (in Anlehnung an die zitierten Verse) die menschliche Existenz zwischen den beiden Polen Traum und Wirklichkeit aufgespannt. Das Entscheidende sei der Übergang vom Traum in die Wirklichkeit. Anders gesagt: Es geht immer um das Über-Setzen vom Dunkel der "guten" Träume ins grelle Licht der Realität.

In anderthalb Wochen wird ein solcher "guter" Traum Wirklichkeit: Acht Länder, deren Menschen über Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang in Unfreiheit gehalten, den Repressionen der kommunistischen Diktaturen ausgesetzt waren, werden Mitglieder der Europäischen Union. Etwas, das vor 20 Jahren unvorstellbar schien, höchstens für einige kühne Geister dies- und jenseits des Stacheldrahts eine vage Hoffnung. Ein Traum eben, an dessen Übersetzung diese Personen freilich zäh und beharrlich, vielfach auch religiös inspiriert, im besten Sinne des Wortes zivilcouragiert gearbeitet haben.

Viel war jetzt wieder, am Vorabend der Erweiterung, hingegen von der Wirklichkeit die Rede, davon, dass in den 15 Jahren seit der Wende die Euphorie nüchterner Betrachtung, öfter noch Skepsis oder gar aus Angst gespeister Ablehnung gewichen ist. Die Gründe dafür sind hinreichend analysiert, im Kern hat es wohl damit zu tun, dass es keinen Wandel gibt, der nur Gewinner kennt. Noch grundsätzlicher: dass der Preis der Freiheit ein hoher ist, der nämlich von Ungleichheit und Unsicherheit.

Das sagt sich freilich leicht für die Protagonisten des Wandels und seine Profiteure - und wenn es so stehen bleibt, haftet ihm leicht der Hautgout des Zynismus an. Es darf zudem nicht übersehen werden, dass nicht nur zuviel Sicherheit die Freiheit erstickt, sondern auch Freiheit ohne ein bestimmtes Maß an Sicherheit in ihr Gegenteil zu kippen droht. Ganz falsch ist der Brecht'sche Sager vom "Fressen" und der "Moral" eben nicht.

Deswegen ist es wichtig, dass Caritas-Präsident Franz Küberl unlängst bei einer gemeinsam mit der Erste Bank veranstalteten Konferenz im Stift Melk einige so elementare wie simple Wahrheiten in Erinnerung gerufen hat: etwa die, dass es uns in Europa nur gut gehen kann, wenn es auch dem Nachbarn gut geht. Und Erhard Busek, nicht eben sozialpolitischer Romantik verdächtig, konstatierte gerade in den Beitrittsländern einen "Kapitalismus in Reinkultur", der zu gravierenden Defiziten in den dortigen Sozialsystemen geführt habe. Ohne Rückbesinnung auf Solidarität oder Nächstenliebe werde es nicht gehen, stellte Busek unumwunden fest. Auch Erste-Bank-Chef Andreas Treichl warnte davor, die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern bei den "Neuen" größer werden zu lassen. Interessant war aber vor allem die Bemerkung Treichls, er gelte in Österreich als "neoliberales Übel", in Prag hingegen als "roter Andi".

Denn auch das ist europäische Wirklichkeit: die Differenz zwischen "altem" und "neuem" Europa, die sich keineswegs nur an der Haltung zum Irak-Krieg festmachen lässt. Man kann darüber lamentieren, die "Neuen" antieuropäischer Gesinnung, blinder US-Gefolgschaft, womöglich der Undankbarkeit zeihen. Oder aber (ganz abgesehen davon, dass natürlich weder "altes" noch "neues" Europa homogen sind) man anerkennt diese Differenz als Stachel im eigenen Fleisch: als Ansporn, eigene Positionen und Positionierungen zu überdenken: Wie war die performance der Westeuropäer gegenüber den Mittel- und (Süd-)Ost-Europäern seit 1989? War etwa Jacques Chiracs Rüffel nur ein Ausrutscher, oder doch symptomatisch für eine habituelle Arroganz? Können Berlin, Paris & Co. mit ihren lähmenden Reformdebatten vorbildhaft für Warschau und Prag sein?

Solchen Fragen gilt es, sich ehrlich zu stellen. Auch das wäre ein Beitrag zur Realisierung des europäischen Traums.

rudolf.mitloehner@furche.at

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