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Verrosten oder von vorn anfangen

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Wofür steht der OGB? Kämpft er für Ziele von vorgestern, oder ist er bereit, sich Umbrüchen und Trendwenden in der Arbeitswelt zu stellen?

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Wofür steht der OGB? Kämpft er für Ziele von vorgestern, oder ist er bereit, sich Umbrüchen und Trendwenden in der Arbeitswelt zu stellen?

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Die Behandlung der provokanten Frage „Wozu brauchen wir heute noch die Gewerkschaften?” sollte sich nicht auf den Hinweis der unleugbaren historischen Verdienste der Gewerkschaftsbewegung erschöpfen. Sie liegen in der Verwirklichung der großen Sehnsucht in „der Zukunft fernen, daß Arbeit und Brot uns gerüstet stehen, daß unsere Kinder in der Schule lernen und uns're Alten nicht mehr betteln gehen”. Daß die Interessenvertretung der Arbeitnehmer darüber hinaus auch in Zukunft sich der vielfältigen Anliegen ihrer Mitglieder mit Nachdruck zu widmen hat, bleibt unbestritten.

Auch geht es hier nicht darum, zu unberechtigter oder zutreffender Kritik Stellung zu nehmen. Sicherlich sind große Verbände keineswegs immun gegen kontraproduktive Erscheinungen wie Unbeweglichkeit, Machtmißbrauch einzelner Funktionäre oder Hypertrophie. Solche Entwicklungen lassen sich aber besser von innen als von außen bekämpfen. Der berühmte englische Nationalökonom

John Maynard Keynes, der die Wirtschaftspolitik unseres Jahrhunderts wie kein Zweiter beeinflußt hat, schreibt: „Es ist sinnlos und einsam, Politik jenseits aller Organisationen zu betreiben. Es hat auch wenig Sinn, die Abneigung gegen die oligarchischen und bürokratischen Elemente von Organisationen, einschließlich von Parteien, bis zu einem wirkungsvollen Fundamen talismus zu betreiben”. Wohl aber ist zu prüfen, welche Aufgabe der Interessenvertretung der Arbeitnehmer in einer Zeit zukommt, in der die wesentlichen Ziele dieser Organisation verwirklicht erscheinen, die aber gleichzeitig von einer erschreckenden Entsolidarisierung gekennzeichnet ist.

Bei der Beurteilung der Institution Gewerkschaft ist zunächst in Bech-nung zu stellen, daß es in der Politik kein Vakuum der Macht gibt. Der englische Schriftsteller John Boyndon Priestley sagte einmal, daß Politik auf jeden Fall gemacht wird, entweder wird sie von uns mitgestaltet, oder die Entscheidungen fallen ohne uns. Wer abseits steht, darf sich nicht beklagen, wenn Politik schlecht und überdies gegen seine Interessen betrieben wird. In der parlamentarischen Demokratie kommt es bekanntlich zu einer Gewaltenteilung, wobei Gesetzgebung und Verwaltung mehr oder minder starken Einflüssen von Interessengruppen unterliegen. Dabei unterscheidet man im Prinzip zwei deutlich divergierende Formen: das etwa in den USA, Großbritannien oder Frankreich praktizierte Lobbysystem und das kooperatistische System, das in der Schweiz, in Schweden und in Österreich Anwendung findet. In der erstgenannten Organisationsform vertreten zahlreiche Gruppen unterschiedlicher Größe und Potenz divergierende Einzelinteressen, im anderen Fall werden die unterschiedlichen Anliegen zunächst innerhalb der Interessenvertretung koordiniert und nach Erarbeiten eines gemeinsamen Standpunktes nach außen vertreten.

Zwar besteht derzeit ein genereller Trend zum Lobbysystem, was als Zeichen problematischer Entsolidarisierung gewertet werden kann. Auf der anderen Seite hat Universitätsprofessor Peter Gerlich in einer Studie „Interessensysteme und Politik” nachgewiesen, daß kooperatistische, also sozialpartnerschaftliche Systeme in der Vertretung und der Durchsetzung der Interessen der Mitglieder effizienter sind. Sie tragen mehr zur Effektivität des staatlichen Handelns bei. Staatliche Politik kann wirkungsvoller umgesetzt werden, wenn sich der Staat auf die Mitarbeit der großen Verbände verlassen kann. Dies gilt insbesondere auch für die Erreichung gesamtwirtschaftlicher Ziele wie Wirtschaftswachstum, Geldwertstabilität, Beschäftigungsgrad, gesellschaftlicher Frieden und politischer Ziele, wie allgemeine Stabilität und Berechenbarkeit der Politik. Je mehr Lobbies bestehen, desto unvorhersehbarer wird die staatliche Politik.

In einer Untersuchung von Taran-telli („The Begulation of Inflation and Unemployment”) wird gezeigt, daß der makroökonomische Erfolg bei Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit und Inflation in Ländern mit ausgeprägter Sozialpartnerschaft größer ist als in Staaten mit niedrigem Kor-poratismusgrad. Österreich ist dafür ein gutes Beispiel. Ein Nachteil kor-porartistischer Organisation besteht allerdings darin, daß Interessenvertretungen manchmal spezifische Interessen auf Kosten der Allgemeinheit- bei den Gewerkschaften etwa exzessive Lohnforderungen kleiner Gruppen -durchsetzen. Dies ist vor allem aber nicht dort zu erwarten, wo Interessenvertretungen vom allgemeinen politischen Prozeß weitgehend ausgeschlossen sind. Eine funktionierende Sozialpartnerschaft setzt naturgemäß eine starke Gewerkschaftsbewegung voraus, die auf der einen Seite die Interessen ihrer Mitglieder kraftvoll vertreten kann, auf der anderen Seite aber auch imstande ist, die Grenzen der Belastbarkeit einer Volkswirtschaft ihrer Anhängerschaft verständlich und annehmbar zu machen. Hier liegen die Verantwortung und die Chancen der Gewerkschaftsbewegung des ausgehenden 20. Jahrhunderts.

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