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Vom Prinzip Neutralität zum Prinzip Gewaltlosigkeit

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Seit einigen Jahren gibt es in unserem Land eine zunehmend lebhafte Diskussion über Fortbestand oder Aufgabe des Bekenntnisses zur Neutralität. Diese Auseinandersetzung ist durch die Änderung der gesamten Weltsituation, vor allem aber durch den Weg in die Europäische Union ausgelöst worden. Unsere Neutralität war zunächst kein Hindernis für die Aufnahme in die Staatengemeinschaft. Diese wird sich aber weiterentwickeln, was durch den Maastrichter Vertrag umschrieben wird, zu welchem Osterreich ein „vorbehaltloses” Bekenntnis abgegeben hat. Hier wird eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vorgesehen, die mit unserem derzeitigen völkerrechtlichen Neutralitätsstatus sicher nicht mehr vereinbar wäre. Dies wird Österreich Entscheidungen abverlangen.

Die Auseinandersetzung mit diesem Thema hat eine doch recht tiefgreifende Unsicherheit ausgelöst, gefördert dadurch, daß die politischen Kräfte andauernd unterschiedliche Standpunkte zur Aufgabe, zu einer Neuinterpretation oder zu einem (vorläufigen) unveränderten Fortbestand der Neutralität haben. Es ist dies bei der Ratifizierung des EU-Reitrittsvertrages am 11. November 1994 im Nationalrat wieder deutlich sichtbar geworden. Damals wurde seitens der Sozialdemokraten erklärt, daß sie die Neutralität derzeit für unverzichtbar halten, die Volkspartei sprach hingegen von einem „Relikt”, das bis zum Entstehen eines wirksamen europäischen Sicherheitssystems nur eine „Restfunktion” habe. Auch anläßlich der Anpassung unserer Verfassung an die Mitgliedschaft bei der EU erfolgte zu dieser Frage keine prinzipielle Weichenstellung.

Rei der politischen Reurteilung dieser Frage geht es um viel mehr als nur um Zweckmäßigkeit. Seit dem Jahr 1955 sind zwei Generationen in dem Bewußtsein herangewachsen, daß die Neutralität identitätsstiftend für unser Staatswesen ist. Ein dichtes Element im Republikbewußtsein bildet sie aber auch für die ältere Generation, die genug Katastrophen miterleben mußte. Vom damaligen globalen Konflikt der Großmächte, aber auch von bedrohlichen Gegensätzen in einzelnen Teilen der Welt sollte uns nun und „immerwährend” ein Unberührtsein beschieden sein. Wir wollten eben ein friedliches Land sein, das sich von all dem heraushalten kann. Ein Staat, den niemand zu fürchten hat und der daher auch keiner Bedrohung mehr ausgesetzt ist.

So wenig durchdacht und auch naiv dieses schöne Bild sein mag, ist es doch so sehr Realität geworden, daß ein Verlassen der Neutralität als eine Aufgabe von Geborgenheit empfunden wird. Ein Rückschritt quasi zum Ausgesetztsein in Konflikten, zum Angewiesensein auf den Schutz durch andere Mächte, von dem man weiß, wie unzuverlässig und auch nach egoistischen Motiven er gewährt werden kann. Es wäre angesichts dieser Situation wohl zu überlegen, bei einer Neuformulierung unseres völkerrechtlichen Status keinen als solchen empfundenen Rückschritt zu tun, sondern vielmehr einen Schritt nach vorne. Dieser gäbe sogar die Chance, daß unser Land eine beispielgebende Entwicklung für die gesamte Völkergemeinschaft vorzeichnet.

Österreich könnte sein Bekenntnis in Form eines neuen verpflichtenden Staatszieles ablegen, das nicht weniger, sondern mehr bewirkt, als Neutralität. Diese verpflichtet ja -wie die Bedeutung des Wortes ergibt - „nur” zum Unterlassen des Parteiergreifens in Konflikten, zur Nicht-beteiligung an Militärbündnissen sowie zum Ausschluß fremder Stützpunkte auf unserem Gebiet. All das könnte sozusagen in ein übergeordnetes, weitergreifendes Bekenntnis einbezogen werden. In einen neuen Verfassungsgrundsatz, nämlich den der Gewaltlosigkeit.

Unternehmen wir in diesem Zusammenhang den Schritt zu den Wurzeln unserer Kultur. Gewaltlosigkeit ist die zentrale Botschaft des Evangeliums, soweit es Gebote für das Zusammenleben der Menschen verkündet. Sie hat darüber hinaus Eingang in jedes humanistische Denken, in die Lehren der bedeutenden Psychologen, Pädagogen und Sozialphilosophen gefunden. Damit erschiene es geradezu zwingend logisch, wenn eine moderne Kulturnation die Vermeidung sowie Ächtung von Gewaltausübung in den Katalog der obersten Staatsziele aufnehme. Es wäre dadurch ein Grundsatz statuiert, der den Staat, seine Gesetzgebung, die Vollziehung des B^chts und damit das gesamte Zusammenleben der Menschen prägt. Österreich könnte auf diese Weise ein Beispiel in jener Welt setzen, die nach wie vor von Gewalt, Brutalitat und Grausamkeit gekennzeichnet ist. Durch ein Gebot, das nicht nur etwa vom einzelnen beim Verfassungsgerichtshof eingefordert werden könnte, sondern das - ausgehend von unserer Rechtsordnung -glaubwürdig auf die völkerrechtliche Ebene transponiert werden könnte (siehe Kasten auf Seite 11).

Mit einem solchen Gedanken ist man natürlich der Gefahr des Vorwurfs ausgesetzt, einen naiven, überflüssigen oder sinnlosen Vorschlag zu äußern. Der hier gemachte Denkanstoß kann natürlich auch verworfen oder durch andere, bessere Überlegungen ersetzt werden. Immerhin soll damit die Möglichkeit aufgezeigt werden, die Diskussion um die Neutralität aus der Sackgasse herauszuführen. Auf längere Sicht werden solche oder ähnliche Gedanken, nämlich in Zukunft mehr als nur völkerrechtliche Konstruktionen zu gestalten, immer wieder auftauchen. Eine unübersehbare, weltweite Entwicklung, welche von allen Gutwilligen gefördert wird, weist wohl in diese Richtung.

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