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Ziel: ein „normales” Land

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Japan ist in aller Munde, nicht zuletzt wegen der tödlichen Bedrohung durch die Aum-Sekte (Furche 13, Seite 8). Weltpolitisch muß Japan seine Rolle neu definieren.

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Japan ist in aller Munde, nicht zuletzt wegen der tödlichen Bedrohung durch die Aum-Sekte (Furche 13, Seite 8). Weltpolitisch muß Japan seine Rolle neu definieren.

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Nicht zuletzt die japanischen Lokalwahlen vom 9. April illustrierten die Tatsache, daß die seit 1868 wirkenden Kräfte und Werte an eine Grenze gestoßen sind und ein Paradigmen-Wechsel gefordert ist. Wenn der Führer der sozialistischen Partei, Murayama, sich von den durch Korruptionsvorwürfe geschwächten Liberaldemokraten in den Sessel des Ministerpräsidenten heben läßt, enthüllt sich das politische Treiben als üble Schmierenkomödie. Daß dies selbst den Wählern in dem geduldigsten Volk der Welt bewußt wurde, zeigt das Wahlergebnis.

Die Sozialisten sowohl wie die Liberaldemokraten erzielten das schlechteste Ergebnis seit 1955. In .Tokio sowohl wie in Osaka siegten durch Fernsehauftritte bekannte Außenseiter über die von traditionellen Parteien vorgeschlagenen Berufspolitiker. Besonders auffällig wirkt der Sieg des ehemaligen Komödianten Nokku Yokoyama in Osaka, weil er offenbar gewillt ist, Clownerien gekonnt als Werbegag einzusetzen, zum Beispiel durch die

Forderung nach aktivem und passivem Wahlrecht für Ausländer.

In Tokio gewann der Schriftsteller Yukio Aoshima durch das Versprechen, die gigantischen Bauprojekte seines Vorgängers für die Tokio-Bucht mit künstlichen Inseln und ei-i ner neuen Wasserfront zu stoppen.

Die Liberaldemokraten verloren 220 von ihren 1.502 Sitzen, die Sozialisten 56 von 333.

Die Zweckehe zwischen den seit jeher verfeindeten Partnern wurde offensichtlich von den Wählern nicht ernst genommen. Im kommenden Juni können sie bei den Wahlen ins Oberhaus auch auf nationaler Ebene ihrem Mißfallen Ausdruck verleihen, falls nicht schon vorher auch das Unterhaus aufgelöst werden sollte.

Zur Frage steht, ob Japan endlich ein „normales Land” werden soll, wie Ichiro Ozawa das Problem sieht, der einflußreiche Drahtzieher hinter den Kulissen.

Musterknabe Asiens

Damit deutet er die Tatsache an, daß Japan sich zwar seit 1868 alle Institutionen der Westminster-Demokra-tie geschaffen hat, die aber nur als eindrucksvolle Fassade täuschen, weil die Realität immer noch von feudalistischen Organisationen und Wertvorstellungen geprägt ist.

Trotz freier Wahlen sind die sogenannten Parteien „Lehens-Staaten” im Besitz von „Landesfürsten”, die ihren Samurai für bedingungslose Gefolgschaftstreue den Lebensunterhalt sichern.

Das Wirtschaftssystem vereint mit Erfolg Staatskapitalismus und Planung auf höchster Ebene, von der die zahlungsunfähigen Oststaaten nur träumen könnten (intervenieren, koordinieren, motivieren) mit Monopolkapitalismus auf unterer Ebene, wonach 16 Riesenkonzerne mit eigenen Banken bis zu 70 Prozent der Aktien bestreiten.

Von freier Marktwirtschaft kann daher keine Rede sein. Der Musterknabe Asiens erwirtschaftet ein Bruttosozialprodukt, das zwei Drittel der USA erreicht und dasjenige Chinas um das Achtfache übersteigt. China müßte 25 Jahre lang jährlich um zwölf Prozent wachsen, um das Japan von heute zu erreichen. Japan bestreitet 16 Prozent der Exporte und Importe der Weltwirtschaft.

Bis jetzt genügte dafür das einfache Paradigma von 1868: Nachholen - Einholen - Überholen. Praktisch hieße das, für 15 Milliarden Dollar Patente kaufen und dann aber alles besser und billiger zu produzieren.

Nachdem Japan selbst an die Spitze rückte, muß es nun selbst in Wissenschaft und Technik die Führung übernehmen. Die „Seifenblasen”-Euphorie ist geplatzt. Landpreise sinken um 40 Prozent. Der Aktienmarkt brach zusammen. Verlagerungen ins Ausland höhlen die heimische Produktion aus. Widerstand regt sich gegen die hohen Überschüsse im Außenhandel.

Kurz: Ein Paradigmen-Wechsel ist gefordert: Ein normales Land wäre das Ziel. Doch zeigen sich nirgendwo Persönlichkeiten, die den Neubeginn inspirieren könnten.

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