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Am Lernprozeß vorbei

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„Zwei Drittel der Gesellschaft leben auf Kosten eines ausgegrenzten Drittels.“ Solche Erklärungen der personellen Einkommensverteilung gehen an der Realität vorbei.

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„Zwei Drittel der Gesellschaft leben auf Kosten eines ausgegrenzten Drittels.“ Solche Erklärungen der personellen Einkommensverteilung gehen an der Realität vorbei.

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In ihrer jüngsten Publikation identifiziert sich die Leitung der Katholischen Sozialakademie Österreichs mit der Gesellschaftstheorie der „Zweidrittel-Gesell-schaft“ zur Erklärung der Probleme der personellen Einkommensverteilung auch in Österreich.

Diese Lehre meint, daß sich die Gesellschaft in einem Zustand befindet, in dem eine Mehrheit der Bevölkerung (zwei Drittel) eine Minderheit (ein Drittel) durch „formaldemokratische Entscheidungen“ ausgrenzt und zu Lasten dieses ausgegrenzten Drittels in relativem Wohlstand lebt. Wie die Bundesrepublik Deutschland ist auch Österreich durch eine solche Zweidrittel-Gesellschaft gefährdet. Innerhalb der historischen Klassen und Schichten und quer zu ihnen zeigen sich neue Verschiebungen und Verlagerungen, die ein „Spalten“ und „Splittern“ der Gesellschaft und der historischen Klassen — und der neueren Sozialpartnersolidarität bewirken.

Das alles geschieht im Namen der Freiheit und ist ein Ergebnis der sowohl in der Bundesrepublik wie auch in Österreich angepeilten neokonservativen „Wende“ in der Wirtschafts- und Sozialpolitik neben der technologischen Entwicklung, der zunehmenden Weltmarktorientierung der nationalen Waren- und Finanzmärkte, differenzierter Produktions- und Konsumstandards, anhaltender Massenarbeitslosigkeit und der Finanzierungsprobleme der sozialstaatlichen Einrichtungen. Die „gespaltene und gesplitterte“ Gesellschaft ist die Folge einer „politischen Option“.

Mit der Quantifizierung derer, die „reich“, und derer, die „arm“ sind, wollen die Autoren selbst nicht wörtlich verstanden werden. Für Österreich schätzen sie die Zahl derer, die an oder unter der Armutsgrenze liegen, auf rund eine Million. Für sie ist es sekundär, „ob das Verhältnis sieben Achtel oder drei Viertel oder zwei Drittel ist. Entscheidend ist, daß sich alle Inhaber von privilegierten Positionen in der Gesellschaft angesichts der zunehmenden Armut und des Elends auf eindeutige Mehrheiten berufen können, die Armut und Elend nicht als ihr eigenes Problem wahrnehmen“.

Auch ein Achtel der Bevölkerung ist immer noch eine ausreichend erschreckende Zahl, wenn man sie als Summe bedrückender Einzelschicksale sieht. Für die Qualität der Beobachtungen sind aber auch die Quantitäten, um die es sich dabei handelt, doch nicht ganz so sekundär. Ist es politisch wie auch ökonomisch nicht etwas ganz anderes, ob sieben Achtel oder zwei Drittel der Gesellschaft reich sind, weil ein Achtel oder ein Drittel arm ist, oder ob ein Drittel oder nur ein Achtel der Gesellschaft in den Einkommenskreislauf des jeweils übrigen Bevölkerungsteiles einbezogen werden soll?

Die Theorie wird dort geradezu logisch unverständlich, wo sie behauptet, daß die zwei Drittel dieser Gesellschaft zu Lasten einer ausgegrenzten Minderheit im Reichtum leben. Steht dahinter nicht die Vorstellung einer bloßen Verteilungsphilosophie, das Sozialprodukt wäre ein Gottesgeschenk, und es ginge nur um das Problem seiner Aufteilung, wobei jedes Mehr für den einen nur um den Preis eines Weniger für den anderen erkauft werden kann?

Ist es nicht umgekehrt so, daß für alle diejenigen, die entweder noch nicht, vorübergehend oder auf Dauer nicht oder nicht mehr im Wirtschaftsprozeß mitwirken können, nur deshalb ein regelmäßiges Transfereinkommen realistischerweise gewährt werden kann, weil wir seit dem Kriegsende ein Wirtschaftssystem entwik-kelt haben, welches durch seine Signale, Anreize und Sanktionen dafür sorgt, daß die verbleibenden „zwei Dr jttel“ (für Österreich sechs Siebentel) die verfügbaren knappen Ressourcen ökonomisch richtig verwenden, sodaß sie daraus nicht nur ihren eigenen respektablen oder zumindest ausreichenden Wohlstand bestreiten, sondern auch den notleidenden Teü daran partizipieren lassen können? Sind wir nicht gerade Zeitzeugen des offen eingestandenen Zusammenbruches eines Wirtschaftssystems in den kommunistischen Ländern, welches glaubte, auf solche Anreize, insbesondere auf die direkte Verbindung von Leistung und Einkommen verzichten zu können?

Aufgrund der leidvollen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit erfolgte die Ausweitung des Gemeinwohlbewußtseins auf die „eine Welt“. Das hatte einen einmaligen Wohlfahrtsschub in den beteiligten Ländern zur Folge, wird aber von den Zweidrittel-Gesellschafts-Theoretikern als „Weltmarkt-Ideologie“ abgetan, um dem protektionistischen nationalen Wohlfahrtsstaat offen nachzutrauern. Was man gegenwärtig erleben kann, sei „die Hochkonjunktur der Freiheit: an allen Ecken und Enden politische, soziale, technologische Freiheitsversionen, vor denen das traditionelle Leben (im organisierten Wohlfahrtsstaat!) sich wie das massenhafte Elend eines .Kasernenstaates' ausnimmt“.—Was wir heute zu bewältigen haben, sind vor allem die Teufelskreise und Sackgassen, die wir gerade diesem überzogenen und daher nicht mehr finanzierbaren Wohlfahrtsstaat zu verdanken haben!

Die zwei Drittel beziehungsweise sieben Achtel schließen sicherlich auch die Nutznießer eines geschützten Marktes (durch Zölle, Kartelle, Zulassungsbeschränkungen und so weiter) oder die Begünstigten hoher sozialrechtlicher Aufnahmeschwellen (Kündigungsbestimmungen, Abfertigungsansprüche, Mindestlöhne, Urlaubsansprüche und so weiter) gegenüber tatsächlich „ausgegrenzten“ potentiellen Konkurrenten oder die Nutznießer von Preis- und Absatzgarantien für Agrarprodukte ein. Diese alle aber leben nicht nur zu Lasten der dadurch „Ausgegrenzten“, sondern auch auf Kosten aller Konsumenten und Steuerzahler.

Aber um einen Weg, allen Arbeitswilligen und -fähigen den Zugang zum Wirtschaftsleben und ein faires Preissystem möglich zu machen, geht es den Autoren gar nicht. Im Gegenteil: Zurückhaltende Lohnpolitik (bis hin zu Lohnreduktionen), eine Lok-kerung der Arbeitsschutzbestimmungen (Stichwort Flexibilisierung), .Jeistungsfördernde“ Steuerreformen (Senkung der Grenzsteuersätze), Entlastung der Staatshaushalte über Privatisierung und Budgetsanierung primär über die Ausgabenseite, die auch die sozialen Leistungen auf ein „vernünftiges Maß“ zurückdrängen soll, also angebots-seitige Wirtschaftspolitik — werden als Instrumente der „Ausgrenzung“ angeprangert! Dies wird alles als „Spalten“ und „Splittern“ kritisiert, da diese Maßnahmen überholte „Klassen-Solidaritäten der Arbeitsmarktparteien sprengen, um neuen bedürfnis- und problemadäquateren Solidaritäten Raum zu geben.

Der tatsächliche, gerade umgekehrte Kausalzusammenhang wird mit der unglaublichen Verkürzung ignoriert, daß ein solches Leben im relativen Wohlstand „mit dem guten Gewissen des Tüchtigen (geführt wird), der den Faulen verurteilt und dem Armen karitative Hilfe zukommen läßt“. Haben die Autoren noch nie etwas von den — wenn auch durchaus nicht optimalen - Einrichtungen unseres Wohlfahrtsstaates gehört, zu dessen Finanzierung eine mehr als karitativ hohe Steuer-und Abgabenquote dient, die von den Bessergestellten aufgebracht und dann zum überwiegenden Teil den Begünstigten eben nicht karitativ, sondern als Rechtsanspruch zukommt? Ganz unverständlich ist auch die Polemik gegen diese „bloß nachträgliche“ Zweite Einkommensverteilung über Steuern und Transferzahlungen. Wer am Produktionsprozeß und der damit automatisch verbundenen Einkommensverteilung — aus welchem unverschuldeten Grund immer -nicht teilnehmen kann, der kann doch nur durch eine Zweite Einkommensverteilung, die die über den Markt stattfindende korrigiert, in den Wirtschaftskreislauf einbezogen werden. Selbst das Grundeinkommen ohne Arbeit wäre eine solche Korrektur im Wege einer zweiten Verteilung über ein Transfereinkommen, das über Steuern zu finanzieren wäre, welche letzten Endes aus dem Markteinkommen abgezweigt werden müßten.

Das sind nur einige wenige Bei spiele für eine Sozialtheorie, die soziale Gegenwartsprobleme mit Gewalt als die einer Klassengesellschaft zu erklären versucht, ohne dabei von der sozialen Wirklichkeit und vom rundum laufenden Lernprozeß Kenntnis zu nehmen.

Der Autor, Finanzminister und Nationalbankpräsident a. D., ist Mitherausgeber der FURCHE.

ZWEIDRITTEL-GESELLSCHAFT. SPALTEN, SPLITTERN - ODER SOLIDARISIEREN? Von Ehrenfried Natter, Alois Riedlsperger (Herausgeber) in der Reihe „Soziale Brennpunkte . Herausgegeben von der Katholischen Sozialakademie Österreichs, Europaverlag, Wien-Zürich 1988.

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