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Angst-„Neurosen" heute

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Eines der am weitesten verbreiteten Krisensymptome ist sicherlich das, was man ebenso mißverständlich wie traditionsgemäß Angst-„Neurosen" nennt. Mißverständlich deshalb, weil inadäquate Ängste gewöhnlich nichts mit den Nerven zu tun haben, sondern durch und durch seelisch bedingt sind.

Dabei gebrauchten wir das Wort „inadäquat" und berührten damit ein sehr ernstes Problem. Inadäquat, deutsch wohl am besten mit „unangemessen*! übersetzt, ist ein Affekt, eine Stimmungslage, eine seelische Reaktion dann, wenn sie ihrer Qualität nach falsch ist - wenn man etwa Ekel vor etwas hat, das ein positives Gefühl erwarten ließe. Oder wenn die Reaktion zu intensiv ist - etwa Wut entsteht, wo nur Ärger zu erwarten wäre — oder zu schwach, wenn einem etwa zum Tod eines angeblich sehr geliebten Menschen nichts anderes einfällt als die typische Wiener Formel: Er hat es überstanden.

In vielen Fällen muß man mit dem Wort inadäquat sehr vorsichtig umgehen, weil es nicht so eindeutig festzustellen ist, ob es sich tatsächlich um Fehlreaktionen handelt. Aber es gibt genügend ganz eindeutig gelagerte Konstellationen. Dann hat das Wort auch für die Betroffenen selbst eine durchaus überzeugende Bedeutung. Da sie mit ihrer Vernunft in einem merkbaren Grad über ihren inadäquaten Reaktionen stehen und sie als solche erkennen,haben sie auch das intensive Bedürfnis, sie loszubekommen.

Sie sind dann bereit, mit einem oft beträchtlichen ökonomischen und energetischen Einsatz, mit großem Engagement also, die tiefere Problematik ihrer Psyche aufzurollen, um sich von ihren inadäquaten Reaktionen zu befreien.

Das tiefenpsychologische Schema zur Korrektur solcher inadäquater Reaktionen, die sehr quälend sein können — dies jedoch nicht unbedingt sein müssen — ist, sie aus der Vergangenheit des Betreffenden her affektiv verständlich zu machen. Sehr verkürzt spricht man vom Bewußtmachen der unbewußten Konflikte.

Aber das einfache Bewußtwerden genügt nicht. Die theoretische Einsicht löst keine Probleme, kann höchstens eine Einleitung hiefür sein. Es ist nötig, die alten Konflikte, die in die Situationen der Gegenwart hineinprojiziert, „übertagen" werden, dem Erleben einem affektiven Verständnis zuzuführen. Diese Konflikte sind nunmehr auszutragen und damit die gegenwärtige Situation von ihnen zu entlasten.

Aber das Problem ist insoferne noch komplizierter, als es neben angemessenen und unangemessenen, adäquaten und inadäquaten, individuell also sehr persönlichen Ängsten auch noch andere, kollektiv erzeugte gibt. Und diese Ängste können echt sein, sie können aber auch zur Rechtfertigung individueller Ängste dienen.

Nun amalgamieren sich individuelle mit kollektiv bedingten Ängsten. Und letztere wachsen in der letzten Zeit sichtlich an, sie unterliegen jedoch meist auch massiven Verdrängungstendenzen. Die Angst vor katastrophalen Ereignissen in der Zukunft: So jene vor einem Dritten Weltkrieg, der apokalyptische Ausmaße haben würde, Angst vor langsamer Zerstörung der Lebensbasis des Menschen durch übermäßigen Sauerstoffverbrauch angefangen bis zur Vergiftung des Grundwassers, Angst vor ökonomischen Zusammenbrüchen.

Sensible Personen spürten die unerhörten Bedrohungen schon früher. Man denke an Edvard Münchs „Der Schrei" oder an die wirbelnden Sonnen in späten Werken des Vincent van Gogh. Man könnte jene Untergangsvisionen leicht als Ausdruck einer individuellen Ich-Katastrophe deuten, als Darstellung des Untergangs der eigenen, subjektiven Welt. Und dies mag in gewisser Weise zutreffen.

Doch drängen solche künstlerische Produkte zu einer objektiven, für alle verbindlichen Aussage. Sie meinen ohne Zweifel Katastrophen der Außenwelt. Und so legt all das die Annahme nahe, daß es hier eine Korrespondenz gibt zwischen subjektiver und objektiver Untergangsdrohung. Die moderne Kunst steckt voller Apo-kalyptik, voll tiefer Ängste.

Manch kollektive Symptome, wie etwa der ansteigende Drogenkonsum, der exzessive Sexismus und andere Erscheinungsformen eines forcierten Hedonismus, lassen sich deuten als hysterischer Uberbau über massive Verdrängungen tiefer Bedrohungen.

Mit dem Aufdecken der Ursachen individueller Ängste geht oft auch jene kollektiver einher. Es wäre jedoch unehrlich, würde man hier die Behauptung aufstellen, diese kollektiven Ängste seien grundsätzlich inadäquat. Würde sich eine helfende Psychologie dazu hergeben, diese Ängste und ihre Ursachen zu bagatellisieren, sie zu leugnen, sie zu verdecken, würde sie ähnlich wirken wie eine Droge oder wie I. H. Schulz' Nir-wana-„therapie". In letzterem Fall geht es darum, mit Hilfe einer Art Yoga-Technik in einen Zustand subjektiver Lust zu gelangen und auf die Welt wie in einem Tief schlaf zeitweise zu vergessen.

Um jene Ängste ehrlich zu beseitigen, wäre es nötig, ihre Ursachen zu beseitigen. Es ist aber nichts am Horizont in Sicht, was dies verspräche. Die Psychologie kann hier nur einen sehr bescheidenen Beitrag leisten. Bis dahin müssen wir, so wir ehrlich sein wollen, mit diesen kollektiv verursachten Ängsten leben.

Wir können häufig mit den individuell begründeten Ängsten fertig werden, die anderen müssen wir ertragen. Verdrängen wir jedoch unsere kollektiven Ängste, tun so, als hätten wir sie nicht, sind wir nicht einmal in der Lage, jenen bescheidenen Beitrag zur Verhinderung kollektiver Katastrophen zu liefern.

Wer der Wahrheit ins Gesicht sieht, wird vielleicht mit ihr nicht fertig. Wer ihr nicht ins Gesicht sieht, wird sicher nicht mit ihr fertig. Sie ist stärker als alle Illusion.

Nur ein Teil der Ängste kann zum Verschwinden gebracht werden. Wir schaffen es oft, mit individuell bedingten Ängsten fertig zu werden, mit den kollektiv bedingten müssen wir vorerst leben.

Der Autor ist Tiefenpsychologe.

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