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Das verlorene Ziel

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Am letzten Tag vor Beginn der Osterferien beschäftigte sich der' Nationalrat mit der Wirtschaftslage in Österreich. Die blaugrüne Opposition hatte den Niedergang des Assmann-Imperiums zum Anlaß genommen, auf eine besorgniserregende Entwicklung hinzuweisen: Seit Anfang des Jahres sind in einem traurigen Rekord von Insolvenzen 7.000 Arbeitsplätze verlorengegangen.

Wer nun meint, wir müßten rasch in die EG, damit dieses Problem gelöst wird, der gibt sich falschen Vorstellungen hin. Es deutet viel darauf hin, daß die europäische Einigung auf eine Weltwirtschaftsordnung setzt, die den Gegensatz zwischen Nord und Süd verschärft. Europa schottet sich immer mehr ab, gleichzeitig aber hat es den Anschein, als ob der Weg zur Zweidrittel-Gesellschaft ohne viel Überlegung weiter gegangen würde.

Auch wenn es unlogisch ist, daß sich ein Gutteil der Beschäftigten überarbeitet, während andererseits Millionen Menschen gerne arbeiten möchten, die dominierenden Wirtschaftskräfte wirken nach einer anderen Logik: Der Wettbewerb wird rücksichtsloser, und die Produktivität wird mit Druck gesteigert. Die Folge ist, so konstatieren Experten, daß im tertiären Sektor, also im Dienstleistungsbetrieb, die Zahl der Beschäftigten europaweit von derzeit etwa 35 Prozent in zehn Jahren auf 25 Prozent sinken wird. Pessimisten prophezeien, daß aus den zehn Prozent Arbeitslosen und Unterbeschäftigten leicht 20 bis 25 Prozent werden könnten.

Massenarbeitslosigkeit als Gesellschaftskrankheit, die für unheilbar erklärt wird - diese Gefahr sollte, wenn schon rechtzeitig vor ihr gewarnt wird, nicht bagatellisiert werden.

Daß in einer solchen Entwicklung auch politischer Sprengstoff steckt, ist offensichtlich. Umso notwendiger wäre es, sich auch wieder auf die geistige Dimension Europas zu besinnen, auf das, was Reinhold Schneider „Europa als Lebensform" bezeichnet hat. Es ist der europäische Geist, den nach dem Krieg Persönlichkeiten wie Karl Jaspers oder Romano Guardini beschworen haben: Ein Europa, das mehr sein soll als die Summe seiner technisch-wirtschaftlichen Möglichkeiten.

Schon 1957 bedauerte Reinhold Schneider das Überwiegen des wirtschaftlichen Aspekts bei der europäischen Einigung, und er beklagte das Schwinden eines europäischen Geschichtsbewußtseins. Und Guardini forderte, daß jede europäische Nation ihre Geschichte umdenken müsse, „daß sie ihre Vergangenheit auf das Werden dieser großen Lebensgestalt hin verstehe". Daß das Selbstüberwindung und Selbstvertiefung bedeuten müsse, war dem Theologen klar. Aber er formulierte noch ein Ziel, das den Europabegeisterten von heute aus dem Blickfeld geraten ist.

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