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Dekalag als Feigenblatt

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Kirche? Nein danke, sagen heute viele. Aber die Zehn Gebote - an sie halte man sich. Ist also das christliche Abendland immer noch christlich?

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Kirche? Nein danke, sagen heute viele. Aber die Zehn Gebote - an sie halte man sich. Ist also das christliche Abendland immer noch christlich?

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Es stimmt sicher, daß die Zehn Gebote mehr oder weniger bewußt immer noch als grundlegende Wegweisung für menschliches Zusammenleben angesehen werden. Aber bestimmen sie noch das Leben in unserer Gesellschaft?

„Du sollst an einen Gott glauben“: Umfragen zufolge geben fast 90 Prozent der Österreicher an, sie glaubten an Gott.

So hohe Werte erzielte man jedoch sicher nicht, würde man den Befragten den Text aus Exodus vorlegen: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat; aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine Götter haben...“ Mit einem Gott, der aus jenseitiger Anonymität heraustritt, der Mensch geworden, gestorben und auferstanden ist — da ändert sich das Bild sofort: Weniger als 20 Prozent glauben an die Auferstehung, mehr als 20 Prozent an die Re-inkarnation.

Ein so vager Glaube wird natürlich öffentlich nicht relevant. Denn Glaube an Gott kommt in Österreichs Recht nur insofern zum Tragen, als er von einer Mehrheit der Bürger als Anliegen vertreten wird. Das Recht geht vom Volke aus, hält unsere Bundesverfassung fest. Das ist insofern gut, als es der Mündigkeit, der Würde des Menschen Rechnung trägt.

Gemeinsamer Glaube wird uns also nicht verordnet. Gut. Leitet er aber unsere politische Willens-büdung? Oder kommt diese ererbte Ausrichtung im Pragmatismus des Alltags nicht unter die Räder?

Eine Bildzeile in einer Wiener Tageszeitung könnte einen Hinweis auf eine Umorientierung liefern. Unter einer Abbildung vom Maiaufmarsch der SPÖ stand zu lesen: „Auf dem Rathausplatz verkündete der Bundeskanzler die Frohbotschaft vom Aufschwung.“

Das Heil in der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen: Ist das nicht das oberste, gemeinsame Ziel der Wohlstandsgesellschaft? Hinter Äußerungen wie: „Die Kinder sollen es einmal (materiell) besser haben“, steckt dasselbe Leitbild. Stehen wir da nicht etwa vor dem modernen Götzen, vor jenem anderen „Gott“, vor dem uns das erste Gebot eigentlich warnen sollte?

Da dem ersten Gebot keine entscheidende Bedeutung beigemessen wird, ist eigentlich auch schon klar, daß die prägende Kraft der übrigen neun bedroht ist. Denn „niemand kann zwei Herren dienen ... Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon.“

Unsere Gesellschaft legt ein beredtes Zeugnis für die Wahrheit dieser Aussage Jesu ab. Den Namen Gottes nicht zu verunehren, wozu uns das zweite Gebot auffordert, ist in einer Zeit, die Gott als Anonymus in einen Winkel des Weltalls verbannt, nicht sehr aktuell.

Deutlicher wird die Abkehr hingegen beim dritten Gebot: den Tag des Herrn zu heiligen. Wer diesen Herrn nicht kennt, wird seinen Tag auch nicht mehr heiligen. Wozu auch? So wird in Österreich schätzungsweise ein Viertel des Umsatzes im Bausektor durch Schwarzarbeit geleistet, ein großer Teil davon als Wochenendpfusch. Auch die Landwirtschaft verzichtet heute weitgehend auf die Sonntagsruhe.

Sonntags-ruhe: Immer weniger Menschen kommen zum Abschalten und Auftanken. Allzu umfangreich ist das Konsumangebot: 360.000 Zweitwohnungen harren auf ihre Nutzung ebenso wie elf Fernsehkanäle, der verbilligte Wochenendflug... Klar, daß die Geschäftswelt dieses ertragreiche Feld beackert. Offene Geschäfte am Feiertag sind die logische Folge, denn „Shopping macht hap-py“!

Man mag jetzt einwenden, daß die ersten drei Gebote, die mit der jüdisch-christlichen Gottesvorstellung zu tun haben, der modernen säkularisierten Welt nicht viel sagen können. Aber an den übrigen halte sie fest! Wie wenig das zutrifft, macht das vierte Gebot deutlich: Vater und Mutter zu ehren, ist eine Aufforderung an die erwachsenen Söhne und Töchter. Aber wie schlimm ist diesbezüglich heute die Lage!

Im Alter ist der Mensch allein gelassen: In 40 Prozent der Wiener Haushalte lebt nur eine Person, meist eine Witwe. Bis es wirklich nicht mehr geht, bleiben die Alten in den eigenen vier Wänden. Denn die Endstation des Lebens ist heute das Altersheim. Dort stirbt man -oder im Spital (wo 70 Prozent der Sterbefälle stattfinden) — allein. Kein Wunder, daß man auf die Idee kommt, so ein Leben (von dem man „eh nix mehr hat“) abzukürzen.

Damit sind wir auch schon beim fünften Gebot: „Du sollst nicht töten!“ Systematisch wird es heute unterlaufen: Weltweit werden 30 bis 50 Millionen Kinder jährlich im Mutterleib getötet, vom Gesetzgeber geduldete Mas-senvernichtung. Sie macht deutlich, daß die beiden Weltkriege, der Völkermord an Armeniern, Juden oder Kambodschanern keine Pannen in der jüngsten Geschichte waren.

Langsam wird auch das Töten Leidender salonfähig: Sterbehilfe (welch harmloses Wort) wird demnächst in Holland gesetzlich erlaubt. Das Verbot der Tötung auf Verlangen sei „eine Insel der Inhumanität als Folge kirchlichen Einflusses auf unsere Rechtsordnung“, stellte niemand Geringerer als der Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichtshofes fest.

Ein Dammbruch: Der Mensch wird zum Objekt, zur Ware. 1981 wird an der Schweizer Grenze ein Laster mit tiefgekühlten Embryos auf dem Weg nach Frankreich entdeckt; im Vorjahr bot ein

deutscher Arzt menschliche Nieren aus der Dritten Welt um 700.000 Schilling an, heuer wurde bekannt, daß US-Bürger Säuglinge in Mittelamerika „adoptiert“ haben, um sie nachher als Organlieferanten „auszuwerten“. . Was das sechste Gebot anbelangt, genügen ein paar Schlaglichter: Englische Ärzte dürfen den unter 16jährigen Mädchen die Pille verschreiben, ohne die Eltern zu benachrichtigen; in Österreich plädieren rund 80 Prozent der Jugendlichen für die Probeehe, kommen 25 Prozent der Kinder unehelich zur Welt, hatten 75 Prozent der 19 jährigen Geschlechtsverkehr, plädieren Illustrierte für die „neue Treue“: „Monogamie mit aufeinanderfolgenden Partnern“. („Brigitte“ 17/ 1985)

Eisern wird jedoch weiterhin vom Recht das Eigentum geschützt. Es trägt damit dem siebenten Gebot Rechnung. Locker ist allerdings der Umgang vieler Bürger mit fremdem Gut geworden. Das beginnt bei der mutwilligen Zerstörung (in Wien waren 1985 10.000 Reparaturen an den 3.000 öffentlichen Fernsprechern wegen Vandalismus erforderlich) und endet bei der weitverbreiteten Korruption. Im Bereich der „Schattenwirtschaft“ werden in Österreich etwa 110 Milliarden Schilling umgesetzt und damit dem Staat ein Schaden von 30 Milliarden an entgangenen Steuern zugefügt.

Daß da auch das achte Gebot („Du sollst nicht lügen“) laufend

übertreten wird, ist naheliegend. Frisierte Bilanzen, Gewinnverschiebung in Steueroasen sind weltweit geübte Praxis. Jede siebente Führungskraft gab bei einer Befragung in 16 Ländern zu, ungesetzlich oder unmoralisch gehandelt zu haben.

Lockerer Umgang mit der Wahrheit auch in den Medien: Typisch dafür der „Profil“-Bericht über den Wiener Weihbischof Kurt Krenn (38/1987): In der einzigen geschilderten Begebenheit, die ich selbst miterlebt habe, stimmen Darstellung und Sachverhalt kaum überein. Auch der im Artikel zitierte Chefredakteur der Wiener Kirchenzeitung hat die auf ihn Bezug nehmende Stelle als unkorrekt bezeichnet.

Und die Politik? Wie viele falsche Dementis, nicht gehaltene Versprechen, Intrigen...

Bleiben noch die beiden letzten Gebote, nicht die Frau und das Gut anderer zu begehren. Wie sehr aber werden wir gerade dazu heute verführt! Was soll „oben ohne“ im Bad und in der Zeitung, was sollen Bettszenen als Darstellungsmittel in Filmen, was soll Pornographie anderes bewirken,-als das Begehren zu wecken?

Und die Verführung zum Haben — ist die nicht geradezu perfekt? Mit aller Kunst der Psychologen werden uns die Dinge schmackhaft gemacht. Jeder Supermarkt ist so eingerichtet, daß die Kinder bei der Kassa nach Spielzeug und Süßigkeiten grabschen, die Hausfrau mehr mitnimmt, als sie vorhatte ...

Bedenklich wird all das erst, wenn wir uns mit diesem Fehlverhalten abfinden und die Normen dementsprechend ändern, um uns ein schlechtes Gewissen zu ersparen. Das würde nämlich eine Neuausrichtung, eine Verhaltenskorrektur erschweren.

Weil gerade die Kirche die Zehn Gebote vielfach lieblos als Drohbotschaft verkündet hat, wurde ihre Lebensträchtigkeit nicht erkannt. Eine Gesellschaft, die sich vielfach so bedroht fühlt wie unsere, könnte gerade die Wohltätigkeit dieser Lebensregeln wiederentdecken. Das ist unsere Chance.

Uber die Zehn Gebote brachte die FURCHE eine Artikelserie (48/1985 bis 28/1986).

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