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Der Sturz des Sisyphus

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Für die einen war er der Sunnyboy der französischen Innenpolitik, an dessen Wiege unzählige gute Feen gestanden sind. Die anderen sahen in ihm einen Sisyphus, der immer wieder durch kühne Sozialreformen und Projekte die Felsen beseitigte, die auf dem Weg zu einer neuen und besseren Gesellschaft lagen: Jacques Chaban-Delmas.

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Für die einen war er der Sunnyboy der französischen Innenpolitik, an dessen Wiege unzählige gute Feen gestanden sind. Die anderen sahen in ihm einen Sisyphus, der immer wieder durch kühne Sozialreformen und Projekte die Felsen beseitigte, die auf dem Weg zu einer neuen und besseren Gesellschaft lagen: Jacques Chaban-Delmas.

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Mitte letzter Woche wartete gegen 13 Uhr nur noch ein Häuflein von r Journalisten auf die Ergebnisse eines, wie man annehmen durfte, routinemäßigen Ministerrats. Frankreich rüstete sich zum großen Exodus der Juli-August-Ferien. Die Generalsekretariate der politischen Parteien waren verwaist. Die Gewerkschaftszentralen gewährten ihren Mitgliedern längeren Urlaub.

An besagtem Mittwoch erschien plötzlich der Pressechef des Staatsoberhaupts und verkündete die Demission eines Mannes, der zu den engsten Mitarbeitern und Vertrauensleute Pompidous gezählt hatte. Mit einer für französische Verhältnisse atemberaubenden Geschwindigkeit wurde sein Nachfolger Pierre Messmer bestellt und die Namen der neuen Kabinettsmitglieder publiziert.

Man geht nicht fehl, wenn man den Abschied Chaban-Delmas' als eine bemerkenswerte Zäsur in Entwicklung des nachgaullistasc Regimes betrachtet. Selbst sch;

Kritiker vertreten die Meinung, Ohaban-Delmas habe mit seiner Sozialpartnerschaft beachtliche Erfolge erzielt. Die oft angedrohten großen Streiks fanden nicht statt oder wurden bald wieder abgeblasen. In vielen Betrieben wurden die sogenannten „Sozial-Kontrakte“ eingeführt. Die alte gaullistische Idee, Kapital und Arbeit in moderner Form zusammenzuführen, wurde dank der Initiative des Ministerpräsidenten verwirklicht.

Trotzdem zeigte sich die Regierung abgenützt. Ihr gelang es nicht, diverse innenpolitische Hürden zu nehmen. Die Sammelpartei UDR wurde 1971 durch einige schwere Immobilien- und Finanzskandale erschüttert. Die Regierung griff zögernd und ungeschickt ein. Die Krise im staatlichen Fernsehen trug das Ihrige bei, um der Mannschaft Chaban-Delmas' Schwäche und Mangel an Konzept vorzuwerfen. Die unglückliche Steueraffäre des Ministerpräsidenten trübte sein Image in der Öffentlichkeit. Mag er auch streng nach den bestehenden Gesetzen vorgegangen sein, so blieb bei Normalverbraucher Dupont ein bitterer Geschmack im Mund zurück. Dies alles wäre noch zu ertragen gewesen. Aber drei politische Momente beschleunigten den Sturz dieses modernen Sisyphos: Obwohl Chaban-Delmas stets auf das Primat des Staatsoberhaupts hinwies, verschlechterten sich die Beziehungen der beiden ersten Männer des Staats Dieser Vorgang ist durch die Verfassung der V. Republik hervorgerufen, die in ihrer eigenartigen Zwittergetalt — hier Präsidialregime, dort larlamentarische Demokratie — dif-erenzierten Interpretationen Tür ind Tor öffnet.

Die gaullistische Sammelpartei hat .einen Präsidenten und Obmann.

Diese Rolle wird traditionsgemäß vom Ministerpräsidenten und Chef der Mehrheit ausgeübt. Georges Pompidou verstand es meisterhaft, sich dieses Instruments zu bedienen und eine Hausmacht zu bilden, die im gegebenen Fall, also 1969, zu seinen Gunsten funktionierte. Chaban-Delmas dagegen bekam die Partei nie in seinen Griff. Die Abgeordneten und Kader frondierten nicht nur einmal. Des öfteren mußten harte Konflikte zwischen dem Regierungschef und seiner Fraktion vermeldet werden. Der relativ unglückliche Ausgang des europäischen Referendums wurde Chaban-Delmas ebenfalls angelastet, da er sich in seinen Vorbereitungsarbeiten zu wenig energisch und unelastisch bewiesen hatte.

Seit Wochen verfolgten die Beobachter in den Reden und Handlungen Pompidous eine Rückkehr zu den streng orthodoxen Thesen des Gaullismus. Nachdem es nicht gelungen war, die Randzonen des Zentrums im Referendum für das Regime zu gewinnen, — die von Chaban-Delmas proklamierte

Öffnung zur Mitte hin wurde sichtbar desavouiert — blieb dem Staatsoberhaupt nichts anderes übrig, als die Kerntruppen des Gaullismus zu mobilisieren.

Pierre Messmer war einer der wenigen, die de Gaulle nach seiner Abdankung in Colombey-les-deux-Eglises empfing. Der neue Ministerpräsident gründete schon 1969 die Organisation „Gegenwart und Aktion des Gaullismus“, um die außenpolitischen Optionen des

Gründers der V. Republik zu kultivieren. Pierre Messmer, dessen ganze Laufbahn dem Militär und der Kolonialverwaltung gewidmet war, gehört ohne Zweifel zum streng konservativen Flügel der UDR. Von den Sozialexperimenten Chaban-Delmas' abweichend, dürften er und seine Regierung die nationalen Belange Frankreichs akzentuieren, die Öffnung in Richtung Lecanuet und Servan-Schreiber stoppen und mit größerer Unduldsamkeit die Souveränitätsrechte des Staats in internationalen Gesprächen bekräftigen.

Werden die zwei bis drei Millionen mobiler Wähler, auf die es im März 1973 ankommt, diese Renaissance der gaullistischen Traditionen als gut und der gesellschaftlichen Entwicklung gemäß akzeptieren? Oder werden sie von den Sirenentönen der neuen Volksfront angezogen, einem Marchais und Mitterand Vertrauen schenken? Auf alle Fälle muß sich die Regierung Pierre Messmer auf den schwierigsten Wahl-kampf der V. Republik vorbereiten.

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