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Die „breite Front“

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Der Sommer ist Anfang November am Rio de la Plata verfrüht ausgebrochen. An den großen, aber schmutzigen Stränden der uruguayischen Hauptstadt Montevideo baden schon Tausende. Auf der „Rambia“, der 20 Kilometer langen Strandstraße in dem Stadtteil Pocitos, be wegt sich die Autoschlange nur langsam weiter. Junge Leute halten die Wagen mit viel Geschrei an, werfen Plugzettel und Fähnchen hinein. Manche tragen das Abzeichen des „Frente Amplio“ („Breite Front“), andere eine Bauchbinde mit dem Namen „Pacheco“ oder kleben runde Zettel mit der Nummer 906 oder irgendeiner anderen Listennummer an die Windschutzscheibe.

Wer unvorbereitet nach Montevideo kommt, könnte die äußeren Formen des Wahlkampfes mit dem Karneval verwechseln. In dem armen Land, das sich in der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte befindet, werden Milliarden von Pesos im Kampf um die Macht herausgeworfen. Freilich geht es nicht nur ausgelassen zu. Es gibt Tausende von Parteilokalen, in denen nach dem System der Zelle die entscheidende Kleinarbeit geleistet wird, um Anhänger aus der engsten Nachbarschaft zu gewinnen. Attentate — meist mit Pechbomben, die nachts gegen diese „Clubs" geworfen werden — sind an der Tagesordnung. Dann und wann wird auch mit Steinen geworfen oder sogar geschossen. Dabei wurde ein lljähriges Kind getötet.

Auf den Kandidaten der „Breiten Front“ (einer Art Volksfront), General Liber Seregni, wurde ein Attentat verübt. Dabei tritt entgegen »11er Erwartung die intellektuelle Stadtguerilla „Tupamaros“ nicht in Erscheinung. Sie glaubt zwar nicht, daß in Uruguay — wie in Chile — mit dem Wahlzettel die „Oligarchie entthront" werden kann, will aber der „Breiten Front“ die Chance geben, es zu versuchen.

Etwa 1,5 Millionen Uruguayer werden am 28. November an die Urne gehen. Sie haben zunächst in einem Plebiszit zu entscheiden, ob die Verfassungsvorschrift, durch die die Wiederwahl des Präsidenten verboten ist, aufzuheben ist oder nicht. Hierzu müßte mehr als die Hälfte aller Wähler ja sagen, eine Proportion, die bei der herrschenden Konstellation ausgeschlossen erscheint.

Zum ersten Male wird aber die Macht der alten Parteien ernstlich berahnt: Die Christdemokraten, die in Uruguay weiter links stehen als in Chile, die Kommunisten, Sozialisten und linke Splittergruppen beider traditioneller Parteien sowie andere meist kleine Linksorganisationen haben sich in einer Koalition, der

„Frente Amplio“, zusammengeschlossen. Aus wahltechnischen Gründen ist das Kennwort dieser „Breiten Front“: „Partido Demöcrata Cri- stiano“ („Christdemokratische Partei“). Zum ersten Mal in der Geschichte der westlichen Welt stimmen so die Parteigänger Moskaus unter einem christlichen Leitwort.

Das — gemeinsame — Programm der „Breiten Front“ sieht unter anderem eine echte Agrarreform, die Verstaatlichung des Bankwesens und des Außenhandels und einschneidende Wirtschaftsmaßnahmen vor. Die Gallup-Polls geben der „Breiten Front“ für die Hauptstadt — und damit den Oberbürgermeisterposten

— nicht aber auf Landesebene eine gute Chance.

Auf Seiten der „Colorados“ spielt der Präsident Pacheco Areco eine große Rolle. Sein Präsidentschaftskandidat ist der jetzige Agrarmini ster Bordaberry, der selbst Großgrundbesitzer ist und diese Interessen vertritt. Im Rennen liegt vor allem auch D. Jorge Batlles, der aus der „Dynastie“ der Batlles, die schon vier Präsidenten gestellt haben,

stammt und außer einem berühm ten Namen die beste Parteiorganisation hinter sich hat.

Bei den „Blancos“ macht vor allem der jetzige Senator Wilson

Ferreira Aldunate von sich reden. Er wirkt intellektuell, ist eindeutig konservativ, predigt aber vorsichtige Reformen. Wenn man Leute auf der Straße spricht, sagen sie häufig, sie wollten ihn als das „geringere

Übel“ wählen. In beiden traditionellen Parteien gibt es auch ultrarechte Generäle,’die Pacheco Areco die Rolle des „Hüters der Ordnung“ streitig machen. Sie rechnen darauf, daß das Volk sie als Reaktion auf die Guerrillaunruhe wählt.

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