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Die nie erreichbare Wahrheit

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„Der Tempel der Ordnung muß die Religion des Chaos als Faktum anerkennen“, so - beinahe kämpferisch - postuliert Ralph. H. Abraham, Mathematikprofessor der University of California, den Anspruch einer neuen philosophischmathematisch-physikalischen Denkrichtung, die seit genau zwan-

zig Jahren herkömmliche Weltanschauungen ins Wanken bringt. Dabei ist sie keine neue philosophische Schule und keine neue mathematische Erkenntnis, diese „Chaos-Theorie“, sondern bloß die Weiterführung eines prinzipiellen Ansatzes aus dem Altertum und der Renaissance, seit der Jahrhundertwende durch schnellrechnende Maschinen aktualisiert.

Zehntausende Jahre hat die Mathematik warten müssen, bis Computer die Berechnung der Ordnung des Chaos ermöglichten. Aristote-

les, Leonardo da Vinci, Menagi - sie sind die Vorväter der Chaosforschung - die Details des Vogelfluges beschäftigten sie, die der Sintflut, die der Bewegung des Wassers.

Als Henri Poincare 1889 das Sonnensystem untersuchte, landete er als erster mathematisch im Chaos. Der Zerfall des Sonnensystems sei nicht auszuschließen, resignierte Poincare. Das Ergebnis, das heute noch als „Poincare-Sze-nario“ firmiert, zeigt, daß Ordnung und Chaos koexistieren können.

Erst 1947 wurden die Erkenntnisse Poincares wieder aktuell, als in den USA Stanislaw M. Ulam „Zufallszahlen“ durch Rückkoppe-lungen generierte. 1963 wurden sie durch die Versuche Edward Lorenz', die Wettervorhersage zu optimieren, bestätigt: zum ersten Male gelang es - durch jeweils nur geringfügig veränderte Rückkoppe-lungs-Vorgaben -, mit Hilfe eines Computers einen chaotischen Endzustand auf mathematische Weise sichtbar zu machen. Nur kurz zuvor hatte man in Göttingen und in

Moskau als Folge des Poincare-Szenarios entdeckt, daß Chaos zwar zwangsläufig, oft aber in gebändigter Form auftritt.Daß für die Gleichartigkeit der Chaos-Erscheinungen ein universelles Prinzip die Basis darstellte, bemerkte schließlich 1976 der amerikanische Physiker Mitchell Feigenbaum. Bei Experimenten fiel ihm auf, daß unterschiedliche Systeme, sobald sie nur wenige Gemeinsamkeiten aufwiesen, stets demselben „Fahrplan“ ins Chaos folgen.

Der zweite Guru der heutigen Chaos-Forschung, Benoit B. Mandelbrot, beschäftigte sich mit der Visualisierung des Chaos durch Hochleistungs-Computer: seltsam verschrumpelte Gebilde, „Fractals“ entstehen, die sich oft als phantastisch genaue Abbilder der Grenzübergänge zwischen Ordnung und Chaos erweisen und zumeist von betörender, fast kitschiger Schönheit sind.

In beinahe 40 Referaten innerhalb von sechs Tagen wurde in Graz der Versuch unternommen, die

Chaos-Forschung zum ersten Mal unter Teilnahme der anerkanntesten Forscher aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Eine etwas spärliche Ausstellung „virtueller“ Architektur, von Peter Weibel gestaltet, sollte handgreifliche Demonstration unbegreiflicher Phänomene und Denkansätze bieten. Allabendlich wurde der Versuch unternommen, die praktische Umsetzung der Chaos-Prinzipien in Musik, Ballett und Theater zu zeigen.

Während letztere Versuche unbefriedigend ausfielen, brachte das sehr stark frequentierte Symposion Gewinn: noch nie gab es derart gebündelt die Auseinandersetzung mit einer mathematischen Philosophie, deren Auswirkungen sich erst im 21. Jahrhundert zeigen werden. Dies, obwohl die Diskrepanz zwischen Laien und Experten bestehen blieb und obwohl der linguistische Aspekt (der an der Grazer Universität schon Anfang der siebziger Jahre behandelt wurde) stark fehlte.

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