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Die Stunde der Hysterie

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Die Welie einer wundersamen Bekehrung scheint das Land der Ungarn erfaßt zu haben; ungeachtet weltanschaulicher und konfessioneller Unterschiede überbieten sich Scharen von Politikern, Landesvätern und Journalisten in der Auslegung der über Vergebung und Nächstenliebe sprechenden Stellen der Heiligen Schrift.

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Die Welie einer wundersamen Bekehrung scheint das Land der Ungarn erfaßt zu haben; ungeachtet weltanschaulicher und konfessioneller Unterschiede überbieten sich Scharen von Politikern, Landesvätern und Journalisten in der Auslegung der über Vergebung und Nächstenliebe sprechenden Stellen der Heiligen Schrift.

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Anlaß dazu bietet das neulich vom Parlament mit knapper Mehrheit verabschiedete Gesetz, das die Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung gewisser politischer Straftaten auch für den Fall vorsieht, wenn diese im Sinne der bisherigen Rechtsvorschriften bereits verjährt wären. Den religiösen Aspekt hat die Auseinandersetzung erhalten, nachdem sich ein christlich-demokratischer Landesvater übernahm und Religion, Politik und Recht mit folgender Großzügigkeit in aller Öffentlichkeit vermengte: „Vergeben ja, doch zuerst mögen die Täter Reue zeigen!"

Statt dessen kam die Stunde der Hysterie; ein unabhängiger Abgeordneter forderte in der Plenarsitzung den Strick für Kädärs einstigen, heute 84jährigen Stellvertreter, und der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Gyula Hom, sprach von Zehntausenden von Denunzianten, die die Behörden bereits erreicht hätten.

Dabei sind die Anwendungsmöglichkeiten des neuen Gesetzes fast gleich Null. Als Grundlage der Rechtssprechung sieht es nämlich für die vorsätzliche Tötung wohlweislich die Paragraphen des alten Systems vor. Daraus folgt aber, daß jene, die zum Beispiel im Dezember 1956 gegen das Kädär-Regime friedlich demonstrierten, im Sinne der damals geltenden Gesetze eine Straftat (Versuch zum Umsturz der Staatsmacht) begingen, die Schergen kommunistischer Prätorianer aber, die das Feuer auf sie eröffneten, rechtmäßig vorgegangen sind. Geprüft werden kann ausschließlich, ob jene, die dazu den Befehl gaben, in Übereinstimmung mit den damaligen Rechtsvorschriften gehandelt haben. Die Staatsanwaltschaft hat also die Möglichkeit, die Untersuchung gegen die noch lebenden Hauptverantwortlichen einzuleiten; wie weit dies aber sinnvoll sein dürfte, ist allerdings eine andere Frage, zumal man davon ausgehen muß, daß das Beweismaterial zum größten Teil schon längst vernichtet worden ist. Dem Parlament ist es gelungen, ein theoretisches Gesetz zu schaffen, mit dem die Gemüter beruhigt werden sollten. Daß nun das Gegenteil geschehen ist, hat allerdings auch einen politischen Aspekt. SP-Vorsitzender Hom sagte nämlich im Parlament noch etwas, was so manchen Regierungsmitgliedern das Blut in den Adem erstarren ließ. Er sprach von einem Gentleman' s Agreement zwischen den Koalitionsparteien und den einstigen Reformkommunisten am Nationalen Runden Tisch im Sommer 1990.

Kaum waren seine Worte verklungen, steigerten sich die Medien des Landes in Rage und wollten sofort von schriftlichen Vereinbarungen wissen, in denen sich Jözsef Antall Imre Pozsgay verpflichtete, jedwede spätere Verantwortungssuche zu verhindern. In Wirklichkeit gibt es freilich keine solchen Unterlagen; die beiden Politiker waren gescheit genug, Absprachen - wie sie das auch beide zugeben - unter vier Augen zu treffen. Über die Zusagen schweigen sie allerdings und zwar eisern.

Jene, die außer ihnen noch Bescheid wissen, und es sind nicht nur die einstigen Reformkommunisten, könnten sicherlich kaum mit stichhaltigen Beweisen aufwarten, doch es wäre sicherlich möglich, Antall der Täuschung und Irreleitung zu bezichtigen, der Pozsgay und seinen Reformgenossen „die Wahrung des gesellschaftlichen Friedens" im Austausch für die reibungslose Übergabe der Macht zugesichert hat. In Wirklichkeit ist es auch geschehen; getreu ihrer Zusagen hat die christlich-nationale Koalition die Verabschiedung jener Gesetze unterlassen, die hätten verhindern können, daß einstige kommunistische Funktionäre das sogenannte Staatseigentum als GmbHs in Besitz nehmen, es nach eigenem Gutdünken verkaufen und auf diese Weise die Entstehung gesunder marktwirtschaftlicher Verhältnisse beeinträchtigen.

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