Das Unbehagen in der Gegenwart

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Warum es zum Schutz der Republik vor autoritären extremen Rändern – auf der rechten wie der linken Seite des politischen Spektrums – eine demokratische „radikale Mitte“ braucht. Ein Gastkommentar.

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Warum es zum Schutz der Republik vor autoritären extremen Rändern – auf der rechten wie der linken Seite des politischen Spektrums – eine demokratische „radikale Mitte“ braucht. Ein Gastkommentar.

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Erinnern wir uns: Im Ausklang der Ersten deutschen Republik, der Weimarer, war es zu einem Zangenangriff der extremen Rechten und Linken auf die Mitte gekommen. Die Konsequenz waren totalitäre Diktaturen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg im ganzen Kontinent. Zwar verbietet sich ein direkter Vergleich mit den aktuellen Zuständen in einigen Staaten der EU von heute. Aber trotzdem heißt es, wachsam zu sein, wenn die Ränder des politischen Spektrums hier wie dort erstarken und zu einer Schwächung des Zentrums führen.

Das gilt nicht nur für Ungarn oder Polen, sondern auch für Spanien und Italien, Frankreich und Deutschland oder Österreich selbst. Überall nehmen extreme Positionen überhand und äußern sich in vehementer Gewalt gegen Demokratie und Republik. In populistischer Agitation unterhöhlen sie wörtlich und tätlich, was einst tragfähig erschien: Verfassung und Verwaltung des Rechtsstaats. Denn wo „Recht zu Unrecht“ werde, „wird Widerstand zur Pflicht“. Der Schlachtruf der Altlinken ist längst zum Lockruf der Neurechten geworden.

Vergessen wir nicht: Was die Europäische Union und ihre Vorläufer seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Friedensprojekt trug, war nicht nur (was die Linke zu Recht betont) ein antifaschistischer, sondern auch (was sie zu Unrecht verdrängt) ein antitotalitärer Konsens: Faschismus und Kommunismus waren tabu. Dass all das heute, wenige Jahrzehnte nach 1989, mehr und mehr selbst in bildungsund kulturbürgerlichen Kreisen in Vergessenheit gerät, ist ein Indiz dafür, wie schwach verwurzelt eine einst starke Mitte inzwischen ist: Sie ist nicht mehr radikal.

Versöhnung über alle Gräben hinweg

Noch vor dem Ende der Ersten österreichischen Republik hatte der Tiefenpsychologe Sigmund Freud historisches „Unbehagen“ gegenüber der politischen „Kultur“ geäußert. Einer seiner Nachfolger, der Höhenpsychologe Viktor Frankl, erfuhr die Theorie einer Diktatur in der Praxis: Nur mit unbedingtem Willen zum Sinn des Lebens im Kleinen und Großen überlebte er die Vernichtungslager des Nationalsozialismus und trat bis zu seinem Tod für Versöhnung unter den Bewegungen des Zentrums ein: über alle ideologischen Gräben hinweg.

Viele Christ- und Sozialdemokraten hatten unter dem NS-Regime die KZ-Zellen geteilt: Indem sie ab 1945 das Gemeinsame vor das Trennende stellten, sicherten sie das demokratische Fundament der Zweiten österreichischen Republik. So stifteten sie 1955 deren erstes Narrativ, die staatliche Souveränität, und erfüllten 1995 das zweite, den Betritt Österreichs zur Europäischen Union. Ein drittes zu vollenden misslang indessen: der „Export“ der parlamentarischen „Erfolgsstory“ (Erhard Busek) nach Mitteleuropa im Zeitfenster nach 1989.

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