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„Es geht um soziale Vernunft“

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Karl Steinbuch, Professor in Karlsruhe, ist einer der engagiertesten „politischen“ Wissenschaftler der Bundesrepublik. Mit seinen Büchern „Die informierte Gesellschaft“, „Kurskorrektur“ und zuletzt „Ja zur Wirklichkeit“ ist er einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Kürzlich sprach Steinbuch vor dem Akademikefbund in Wien.

FURCHE: Herr Professor Steinbuch, Sie meinten kürzlich,' daß“ Österreich und Deutschland' die leidvolle Erfahrung verbinde, „daß nicht jeder das Glück bringe, der es verspricht“. Was haben Sie damit konkret gemeint?

STEINBUCH: Wenn ich nun heute mal vornehme, was Bundeskanzler Brandt anläßlich seiner ersten Regierungserklärung im Herbst 1969 sagte, wenn ich das alles vornehme und vergleiche mit dem, was in den letzten sechs Jahren unter der sozialliberalen Regierung geschehen ist, da kann ich nur die Hände überm Kopf zusammenschlagen, wie hier die Ankündigung „Glück zu bringen“ und die realen Wirkungen der Politik im Widerspruch stehen. Beginnend mit der Vorstellung „Wir bringen mehr Demokratie“. Dieses „mehr Demokratie“ kann ich heutzutage nur noch lesen im Sinne des semantischen Betrugs als „Funktionärsherrschaft“. Ich möchte beinahe sagen, in der Realität ist „mehr Demokratie“ Aufbau der Funktionärsherrschaft, das zeigt sich. Aber es gibt noch viele andere Dinge. Denken Sie an das pathetische Wort von „Mehr Barmherzigkeit“, das Brandt gebracht hat. Ich glaube, daß noch nie unser Zusammenleben so sehr vom Klassenkampf geprägt war wie gegenwärtig. Was hat dies miteinander zu tun?

Oder denken Sie an die Erklärung Brandts, daß Bildung und Ausbildung an der Spitze der Reformen stehe. Nun, was wir jetzt an Reformen im Bildungsbereich haben, das hat, glaube ich, sehr viel dem guten Willen des Steuerzahlers zu danken, aber sehr wenig dem Genie dieser Regierung. Also zwischen Anspruch, zwischen theoretischer Versprechung und gehaltener ist so ein eklatanter Widerspruch, und es ist nun das Ermessen des österreichischen Zuhörers, zu vergleichen, inwieweit es auch möglicherweise in Österreich zutrifft.

FURCHE: Wie andere namhafte bundesdeutsche Wissenschaftler haben auch Sie ursprünglich die sozial-liberale Regieriings-Koali-tion favorisiert.

STEINBUCH: Ich bin entschieden für einen fortschrittlichen Kurs, der geeignet ist, sich den Problemen unserer Zeit zu stellen. Aber ich bin nicht bereit, eine Politik zu unterstützen, die in progressiven weltfremden Phrasen in Wirklichkeit sehr unerfreuliche Wirkungen in unserer Gesellschaft erzeugt. Im wirtschaftlichen Bereich sehe ich vor allem diese Anheizung der Forderermentalität, in einer Zeit, wo wir genau sehen, daß jeder Mensch sich beschränken muß. Wo eine maßvolle Austerity ein sinnvolles Ziel ist, wurde in unserem Land die Forderermentalität in einer Weise angeheizt, die ich für unerträglich halte. Wohlgemerkt, es geht nicht um die Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern es geht um die soziale Vernunft, die weiß, daß man nicht mehr als 100 Prozent des Kuchens verteilen kann.

FURCHE: Geht ihre Enttäuschung über die Folgen der Reform-Politik und hier vor allem der Bildungspolitik nicht auch darauf zurück, daß Sie als Universitätsprofessor von den Folgen der Hochschulreform auch persönlich betroffen waren?

STEINBUCH: Nur ganz untergeordnet, zum Teil, zugegeben, ja. Dinge, die man früher ganz leicht und effizient erledigen konnte, werden jetzt Objekt einer gigantischen Bürokratie und Organisationsanweisung. Hier ereignet sich auch schon das, was man als Kettenreaktion der Planung bezeichnet hat. Und so entstehen Entscheidungsorganismen, die eigentlich nur noch von „Profis“ des Organisierens beherrscht werden, das heißt, an denjenigen, die sich an der Lösung der Probleme orientieren, die werden ersetzt durch Leute, welche sich als Profis der Organisation herausentwickeln.

FURCHE: Unser politisches System, für das Sie heute ein so engagiertes Plädoyer gehalten haben, scheint sich weltweit in einer Phase des Rückzugs zu befinden. Woher beziehen Sie ihren Optimismus, daß die sogenannte liberale, beziehungsweise westliche Demokratie auch in Zeiten einer weltweiten wirtschaftlichen und politischen Krise Überlebenschancen hat?

STEINBUCH: Ich glaube, daß die Wohlstandsproduktion der liberalen Gesellschaft derjenigen zentralgesteuerten Wirtschaft bald überlegen ist, wie man ja in vielen Statistiken und so weiter nachlesen kann. Auch die Kreativität dieser liberalen Wirtschaftsform ist derjenigen in sozialistischen Staaten offensichtlich weit überlegen. Das heißt, wenn man sich an solchen vordergründigen, materiellen Dingen orientiert, besteht nicht der geringste Grund, an die Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftens, des sozialistischen Zusammenlebens , zu glauben. Aber diese Einsicht muß, glaube ich, in die Öffentlichkeit im höheren Maße hineingetragen werden. Denn darüber müssen wir uns im klaren sein, die Mehrzahl unserer Menschen, die will in einem liberalen Staat, in einem liberalen Wirtschaftssystem leben, darüber gibt's gar keinen Zweifel.

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