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Gesellschaft am Wendepunkt

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Der Verfasser, Generaldirektor der Nationalbank und Gewerkschaftsfunktionär, unternimmt es, aus einer gleichsam ambivalenten Sicht der wirtschaftlichen Entwicklung in Österreich diese in einer Zeit zu analysieren, in der offenkundig eine Verringerung des ökonomischen Wachstums sichtbar und gleichsam auch unvermeidbar geworden ist. Wachstumsreduktion bis hin zum bereits magischen „Null“-Wachstum korrelieren jedoch nicht positiv mit der Entwicklung des Anspruchsniveaus der Mehrheit der Bevölkerung, das sich in einem Bündel wachsender Bedürfnisse und Nachfragewünsche ausweist. Dieser Sachverhalt ist nun das Problem, mit dem sich nicht allein der Generaldirektor der Nationalbank (der Bank-Generaldirektor Österreichs) im vorliegenden Buch auseinandersetzt, sondern zugleich auch der Gewerkschaftsfunktionär.

Die Analyse von, Heina Kienzl geht davon aus, daß die Gesellschaft unseres Landes den Charakter einer Leistungsgesellschaft hohen Ranges hat, aber gleichzeitig eine postrevolutionäre, relativ egalitäre Gesellschaft ist (S. 17), also jenes Maß an sozialer Ausgeglichenheit besitzt, das Leistung und Mehrleistung auch unter sozialen Aspekten sinnvoll erscheinen läßt.

Vermöge ihrer Leistungseignung sind die Österreicher jenen 19 Prozent der Weltbevölkerung zuzurechnen, die 84 Prozent des Welt-BNP erzeugen (S. 18). Unter der Maske der Gemütlichkeit und der Neigung zu einem scheinbar permanenten Weinkonsum — beides simulierte und dramatisierte Kriterien — sind die Österreicher insgesamt eine hart arbeitende Leistungsgesellschaft (S. 18); gleichzeitig eine Kombination von Konsum- und Wohlfahrtsgesellschaft. Das Eigentum an Produktionsmitteln ist zu einem Drittel bei Gebietskörperschaften. Die Schlüsselpositionen der Wirtschaft befinden sich kaum mehr in Händen von Individualeigentümern.

Dem Wirtschaftssystem unseres Landes kann daher nicht das Adjektiv „kapitalistisch“ angelastet wer-, den.

Insgesamt bietet sich in der Sicht des Verfassers das Bild einer prosperierenden und sozial weitgehend ausgewogenen Wirtschaftsgesellschaft bei einem wachsenden privaten Konsum: 7,5 Prozent, England im Vergleichszeitraum 2,75 Prozent, USA 4,5 Prozent (S. 21).

Und nun ist unser Land plötzlich mit einem Wachstumspessimismus konfrontiert, in dem der Verfasser eine besondere Art von romantischer Welle erkennt (S..254), wobei gleichzeitig übersehen wird, daß vorläufig lediglich der Zuwachs nicht mehr ansteigt.

Das reale Wachstum Österreichs ist bisher weitgehend importiert worden; die Folge einer unverkennbaren Exportabhängigkeit des Landes (S. 65) und einer international wirksamen Verschuldensbereitschaft der USA, die allein im Indo-chinakrieg zirka 150 Milliarden Dollar investierten. Ebenso sind noch der Gastarbeitereinsatz und der Einsatz internationaler Konzerne am Wachstum Österreichs beteiligt.

Wenn das Wachstum unseres Landes auch weitgehend exogen bestimmt ist, darf nach Ansicht von K. nicht übersehen werden, daß es auch im Inland natürliche Grenzen für die Expansion der ökonomischen Kapazität gibt, wie etwa den Erholungsraum (man' denke an die bereits teilweise Vernichtung des Salzkammergutes) oder den Ansiedlungs-bereich für die Industrie.

Für die Sicherung der Vollbeschäftigung und eines kontinuierlichen Wachstums ist ein korrespondierender Bedarf erforderlich. Also etwa: Ohne Nachfrage nach Produktionsfaktoren keine Beschäftigung. In einer vorgeschlagenen Kürzung der Arbeitszeit sieht der Verfasser nur ein kurzfristig wirksames Instrument der Beschaffungspolitik (S. 73), was als eine höfliche Kritik des Verfassers verstanden werden kann.

Die Lohnpolitik der Gewerkschaften ist in Österreich eine zentralistische. Auf diese Weise ist eine Koordination, eine stets auf den volkswirtschaftlichen Lohnfonds Bedacht nehmende Lohnpolitik möglich, die vom Verteilbaren ausgeht und nicht einen illusionären Charakter hat.

Das elementare Anliegen des Verfassers ist: Wie wird in einer Gesellschaft, deren Angehörigen nun an ein permanentes Wachstum der ihnen verfügbaren Einkünfte und auf diese Weise der Kaufkraft gewöhnt sind (und bereits bestimmte Konsumattitüden pflegen), ein langsameres Wachstum und die korrespondierende Verringerung der Konsumchancen aufgenommen? (S. 97 f.).

Nun stehen aber im Vergleich zur Ersten Republik in unserem Land für die Disziplinierung des Wirtschaftsprozesses neue Steuerungsmittel zur Verfügung, wobei keineswegs etwa in einer „Abschaffung“ des Privateigentums an Produktionsmitteln ein wesentliches positives Steuerinstrument gesehen wird (S. 103).

Die Ausführungen des Verfassers sind von einer erfrischenden Nüchternheit, abgewogen, ständig unter Bedachtnahme auf die Realitäten. Das gilt auch für die Prognosen und die gesellschaftspolitischen Perspektiven (S. 127). K. macht sich auch für den künftigen Organisationskoeffizienten der Gewerkschaften keine Illusionen. Je geringer die Quote der Arbeiter ist (steigender Angestelltenkoeffizient), um so geringer ist auch die Neigung der Arbeitnehmer, sich gewerkschaftlich organisieren zu lassen. Die Angestellten sind für K. eher unrealistische Radikale (wie die Bauern) und weniger an Gewerkschaften orientiert. Nun bedarf aber unser Land starker Gewerkschaften; nur über sie kann der erforderliche Konsens gesichert sein. Dieser Konsens muß aber auf der Erkenntnis begründet sein, daß Erwartungen mit den Realitäten abzustimmen sind, wenn es nicht als Folge eines falschen Wachstums-Glaubens zu irreversiblen Strukturwandlungen kommen soll, deren Defizite in erster Linie die Arbeitnehmer zu tragen haben.

GESELLSCHAFT AM WENflÄ,or PUNKT? Von Heinz Kienzl. Verlag des österr. Gewerkschaftsbundes, Wien. Broschiert, 125 Seiten.

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