Widerstehe doch der Sünde
Ines Charlotte Knoll über eine befreiende Erkenntnis über unsere Menschlichkeit.
Ines Charlotte Knoll über eine befreiende Erkenntnis über unsere Menschlichkeit.
Widerstehe doch der Sünde, / Sonst ergreifet dich ihr Gift“. Mit diesem klaren, ermutigenden Aufruf beginnt die Kantate von Johann Sebastian Bach, dem dritten Sonntag der Passion, Oculi, zugeordnet. Seinen Namen erhält dieser Tag von den Psalmworten: „Meine Augen sehen stets auf den Herrn.“ Und dies meint, meine Augen richten sich nicht auf das Meine, sondern sie blicken hier und heute auf das ganz Andere, auf das den Menschen aus seiner Frage, seiner Schuld und Not Herausheilende; heraus aus seinem Umherirren, von dem Nietzsche sprach, „wie durch ein unendliches Nichts“.
In das werfen wir uns indes täglich neu mit einer unglaublich hohen Selbstenergie, und nicht nur im Bühnenspiel, das auf sehr kleinen Darsteller(innen)flächen Platz hat in einer Hand, wie auf großen Darsteller(innen)schirmen in Fernsehzimmern aller Art. „Am Ziel“, das Stück von Thomas Bernhard, habe ich im Theater gesehen. Darin heißt es über das In-der-Welt-Sein des Menschen: „Wir gehen auf einen Menschen zu / und er ist ein ganz anderer / Uns erschreckt, worauf wir vertraut haben“. Das kennen wir gut aus allem, was uns zutiefst bestürzt und ängstigt, und wir wollen die Augen schließen vor den Schrecklichkeiten, deren Verursacher die Sünde ist oder das Böse oder der Satan, von dem Bach singen lässt: „Lass dich nicht den Satan blenden; / Denn die Gottes Ehre schänden, / Trifft ein Fluch, der tödlich ist“. Das stimmt! Mensch, wie das stimmt. Da überkommt einen schon ein Dunkelstaunen.
Als ein Passionstrost und Gegengift jedoch liest sich ein Gedanke von Ingolf U. Dalferth. Wer an den sündlosen Menschen glaube und meine, auf der Erde das Himmelreich schaffen zu können, „baut an der Hölle“. In dieser befreienden Erkenntnis können uns die Augen aufs Neue aufgehen für ein schon verloren Geglaubtes: unsere Menschlichkeit.
Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i. R.
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