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Grundwerte zu haben reicht nicht aus

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Gewiß ist die Besinnung über das, was die österreichische Politik über bloß pragmatische Auseinandersetzungen um das jeweilige Thema des Tages hinausführt, und über die Maßstäbe, nach denen in solchen Auseinandersetzungen entschieden werden soll, dringlich und wichtig.

Politik, die sich dieser Besinnung verweigern wollte, würde zu kurzatmig, als daß sie den Problemen von heute und morgen gerecht werden könnte. Und eine Gesellschaft, die sich den Ideen der Menschenwürde, der Freiheit und der Demokratie verschreibt, darf den Prozeß der Selbstverständigung darüber, was sie mit sich anfangen will, nicht als eine Art von intellektuellem Luxus betrachten.

Trotzdem ist das, was unter dem Titel „Grundwertdebatte“ oder „Grundsatzdiskussion“ in Gang gekommen ist, nicht in allen seinen Phasen und Aspekten so recht befriedigend. Das liegt, vielleicht, auch an diesem Titel selbst und an der Richtung, die er dem Gedankenaustausch gewiesen hat.

„Grundsätze“ und „Grundwerte“ - worum handelt es sich? Ein „Grundsatz“ ist für den, der Begriffe gern präzis definiert und überlegt verwendet wissen möchte, ein Satz, der sich von anderen dadurch unterscheidet, daß er weniger beweisbar, aber einleuchtender ist als andere Sätze. Und mit dem Ausdruck „Grundwerte“ sind offenbar sinngebende und richtungweisende Grundsätze des politischen Handelns gemeint.

Tatsächlich ist die Rede von den „Grundwerten“ vor etwa einem Jahr im deutschen Sprachbereich üblich geworden. Dabei haben sich einige wenige Zentralbegriffe des ethisch-politischen Bereichs als diejenigen herausgestellt, auf die es vor allem ankommt: Freiheit und Menschenwürde,, Gerechtigkeit und Verantwortung, Subsidiarität und Solidarität.:..

Indessen: was bringt es ein, über die Richtigkeit oder Vortrefflichkeit solcher „Grundwerte“ zu diskutieren? Lassen sich die großen politischen Grundsatzkontroversen der Gegenwart und die in ihnen zum Ausdruck kommenden „weltanschaulichen“ Gegensätze etwa am „Ja“ oder am „Nein“ zu solchen Grundwerten fest-machen? Wohl kaum. Von wem erwartet man denn, daß er gegen die Freiheit oder gegen die Gerechtigkeit wäre?

Bekanntlich gibt es auch marxistische Interpretationen der Freiheit. Und wer etwa meinen wollte, ein überzeugender Verfechter des Klassenkampfes könne doch nicht den „Grundwert“ der Partnerschaft oder der Solidarität bejahen, so daß man ihn zwingen sollte, dazu Farbe zu bekennen - wer so denkt, der hat nicht begriffen, wie der andere die Problematik sieht. Propagiert, um noch einmal bei diesem Beispiel zu bleiben, ein Marxist den Klassenkampf, so bestreitet er nicht, daß Solidarität, partnerschaftliches oder gar brüderliches Miteinander, eine gute Sache wäre, ein „positiver Grundwert“.

Er meint vielmehr, die gesellschaftlichen Verhältnisse seien derart, daß wirkliche Solidarität unter solchen Bedingungen gar nicht zum vollen Tragen kommen könne, weil die Strukturen die Menschen in Interessenkonflikte treiben; zunächst müsse man eine Änderung dieser Zustände erkämpfen, so daß ein partnerschaftliches Miteinander und Füreinander erst voll realisierbar wird.

Entsprechendes gilt für andere Grundwerte und ethische Maximen: man lehnt sie nicht ab, sondern man meint, daß die Gesellschaftsstrukturen ihre echte und volle Praktizierung erschweren oder verhindern - weswegen eben diese Strukturen umgestaltet werden müßten.

Mit anderen Worten: Das, worum es sich lohnt, zu argumentieren, ist gar nicht das prinzipielle Bekenntnis zu „Grundwerten“, die Frage, ob irgendwer für oder gegen Freiheit, Gerechtigkeit oder Solidarität wäre; sondern stattdessen ein zweifaches anderes:

• Erstens die Frage, ob, wohin und in -welcher Richtung, die konkreten Verhältnisse zum Besseren veränderbar sind, derart, daß also die Chancen für die Realisierung (nicht nur für die Proklamation) solcher Grundwerte größer werden; und umgekehrt die Frage, ob und inwieweit bestimmte gesellschaftspolitische Vorhaben und Maßnahmen nicht eher geeignet sind, Freiheit einzuengen. Solidarität zu schwächen oder einer Zerreißprobe auszusetzen, Menschenwürde in Frage zu stellen.

• Zweitens aber darf auf eine andere Frage nicht verzichtet werden, will man nicht Sachlichkeit mit Techno- kratie (und im Extrem mit Unmenschlichkeit) verwechseln: Nach welchen Kriterien und Maßstäben soll denn ermittelt werden, ob und inwiefern eine bestimmte Maßnahme samt ihren Auswirkungen Menschenwürde fördert oder einengt, konkrete Humanität (Chance der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Solidarität) vermehrt oder vermindert.

Egon Matzner hat recht, wenn er den Zusammenhang von Gesellschaftsreform und Menschenbild herausstreicht. Aber was ist die Konsequenz, wenn man den Menschen, eine Formel von Marx aufnehmend, als das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ bestimmt? Eben dann ist die Person nicht mehr als eine Funktion der Gesellschaft; eben dann ist es nicht mehr möglich, gesellschaftliche Verhältnisse und gesellschaftspolitische Maßnahmen oder Vorhaben gerade um des Menschen willen in Frage zu stellen, der Kritik zu unterziehen; eben dann besteht die Gefahr, daß „Emanzipation“ proklamiert und fremdbestimmte Gleichschaltung bewirkt wird, ohne daß der darin liegende Widerspruch überhaupt begriffen werden kann.

Diskussionen über „Grundwerte“ mögen ihren guten Sinn haben, indem sie an Dimensionen der Politik erinnern, die in der Pragmatik des Alltags vergessen oder verdrängt werden können. Geht es aber darum, den Sinngehalt dieser Dimension selbst zu erschließen oder gar zu verwirklichen, dann reicht es nicht aus, Grundwerte zu proklamieren, auf sie hinzuweisen, ihre Anerkennung zu fordern.

Das, worauf es dann ankommt, ist schwieriger: es gilt, sich darauf zu besinnen, was Personalität und Humanität bedeuten (was die Kriterien dafür sind, daß man vom Sinn und vom Gelingen des Menschenlebens, eines Menschenlebens reden kann); und es gilt, konkrete Strukturanalysen vorzunehmen und kritische Phantasie im Blick auf Möglichkeiten der Bewahrung und der Veränderung.zu entwik- keln. Erst wer sich auf beides einläßt, wird imstande sein, Leitlinien für eine am Prinzip der Menschenwürde orientierte Politik zu gewinnen.

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