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Marie Therese Kerssenbrock f

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Wahre menschliche Größe erfährt man nicht aus Zeitungen und man sieht sie nicht auf den Bildschirmen. Verbrechen, Naturkatastrophen, Abwegigkeiten und Gesellschaftsskandale haben

Nachrichtenwert; die Vollendung eines Lebens, das ganz und ausnahmslos für andere gelebt wurde, hat keinen.

Dennoch: nicht wenige Leser dieses Blattes mögen innegehalten haben, als ihr Blick an dem Namen Kerssenbrock hängenblieb; nicht wenige mögen an die Jahre zurückgedacht haben, in denen es um Österreichs Freiheit ging und in denen Marie Therese Kerssenbrock als Begleiterin Dr. Adelhaid Habsburgs zahllose karitative Institutionen landauf, landab besuchte und nebenher bei der Erledigung einer Korrespondenz half, die ins Uferlose wuchs.

Es hatte aber alles schon viel früher begonnen, genaugenommen im Februar des Jahres 1917. Kaiserin Zita mußte nach der Thronbesteigung Kaiser Karls von einem Feldspital ins andere reisen, Sitzungen des Roten Kreuzes präsidieren, Delegationen empfangen, Kriegsküchen und andere Hilfsaktionen organisieren. Wer würde nun, während ihrer Reisen und während ihrer „Dienststunden“, die sich meist bis in die Nacht hinein dehnten, die bisher von ihr allein betreuten Kinder erziehen? Man hatte ihr eine junge Dame empfohlen: Marie Therese Gräfin Korff-Schmising-Kerssenbrock, geboren am 6. Oktober 1888 in Lichtenstein, Böhmen, akademisch gebildet, pädagogisch versiert. Ein erstes Gespräch, ein erstes einander Kennenlernen entschied für, immer. Am 1. Februar 1917 begann „die Korffi“, wie die Kinder sie alsbald nannten, ihren Dienst. Sie ging mit der Familie von Schönbrunn nach Eckartsau und 1919 ins schweizerische Exil. Als Kaiser und Kaiserin nach dem zweiten Versuch, die Horthy-Diktatur in Ungarn zu stürzen, gefangengenommen und nach Madeira deportiert worden waren, hatte Marie Therese Kerssenbrock, neben der Urgroßmutter Erzherzogin Maria Theresia, die alleinige Verantwortung für die Kinder Kaiser Karls, hatte deren Ausreise aus der Schweiz zu organisieren, hatte sie quer über den Kontinent, über den Atlantik auf die ferne Insel zu bringen, wo die Eltern konfiniert waren.

In den letzten Märztagen des Jahres 1922 pflegte sie, gemeinsam mit Kaiserin Zita, Erzherzogin Maria Theresia und Gräfin Viktoria Mensdorff, den sterbenden Kaiser Karl. Sie kam dann mit seiner Witwe und seinen verwaisten Kindern nach Spanien, nach Belgien, vorübergehend auch wieder nach Österreich. Sie floh mit der steckbrieflich von der Gestapo verfolgten Familie vor der deutschen Wehrmacht quer durch Frankreich, durch Spanien, über Portugal nach Amerika. In Tuxedo-Park bei New York half sie Kaiserin Zita und Dr. Adelhaid Habsburg, die Hilfssendungen für die hungernden Heimatländer vorbereiten und abfertigen. Mit Kaiserin Zita kehrte sie nach Europa zurück, fand sie schließlich, und dies erst vor wenigen Jahren, ein Daheim im graubündnerischeh Zizers, nahe der österreichischen Grenze. Sie half die aufs neue uferlos gewordene Post erledigen, die nicht-abreißenden Besuche einteilen, den Stundenplan der Kaiserin in Evidenz halten. Seit langem an einem schweren Herzleiden erkrankt, verlängerte sie ihr Leben, das nach ärztlichem Urteil längst hätte zu Ende sein müssen, mit der Kraft ihres Willens — um „die Herrin nicht allein zu lassen“. Schließlich aber mußte auch ihr Wille kapitulieren: an die Schulter der Herrin gelehnt, schlief sie am 10. Februar (es war wie beim Tode Kaiser Karls, ein Samstag) in die Ewigkeit hinüber.

Sie wurde in der neuen Habsburger-Gruft von Muri im schweizerischen Aargau als Nicht-Habsburgerin beigesetzt, wie einst Kaiserin Maria Theresias Erzieherin, die „Fuchsin“, als Nicht-Habsburgerin in der alten Gruft bei den Wiener Kapuzinern.

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