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Wann beginnt wirklich das menschliche Leben?

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Der Beginn menschlichen Lebens ist sicher nicht die Einnistung in der Gebärmutter, sondern die Befruchtung. Diese aber ist ein Prozeß von mehreren Stunden.

Die Vereinigung der menschlichen Geschlechtszellen wird - unabhängig von der Beurteilung der Schutzbedürftigkeit des Lebens — als Beginn der Menschwerdung angenommen. Sosehr diese grundsätzliche Aussage stimmt, so schwer kann man dieses Ereignis terminisieren beziehungsweise mit dem derzeitigen Stand des Wissens auf die Minute festlegen.

Ein großer Unterschied besteht bereits zwischen Empfängnis und ehelichem Verkehr: Ereignet sich die Ejakulation (Samenerguß) nach der Freisetzung der Eizelle aus dem Eierstock, so kommt es relativ bald zur Verschmelzung

der Gameten (Keimzellen). Die Spermien treffen in den Eileitern auf das dort in Richtung Gebärmutter transportierte Ei und beginnen in diesem Teil des Geschlechtstraktes mit der Konjugation (Verbindung).

Findet das eheliche Geschehen allerdings vor dem Eisprung statt, so treffen die in die Eileiter vorgedrungenen Spermien auf noch keine Eizelle: Bis zu drei Tage können die Samenzellen lebendig bleiben und auf die aus dem Eierstock freigesetzte Eizelle warten.

Nach der Befruchtung in den Eileitern wandert der Embryo einige Tage hindurch in die Gebär-

mutter herab. Trifft er während dieser Reise bereits im Eileiter auf die Schleimhaut, die normalerweise nur in der Gebärmutter vorkommt, so kann dies eine Ursache für die Eileiterschwangerschaft sein: Der Embryo vermeint, bereits in der Schleimhaut des Uterus zu sein, und nistet sich ein.

Nach zirka vier bis sechs Tagen erreicht der Embryo normalerweise die Schleimhaut der Gebärmutter, es kommt zur sogenannten „Implantation“.

Zu diesem Zeitpunkt ist bereits die Eizelle mit der Samenzelle vollständig vereint, neues menschliches Leben in dieser Phase zweifellos schon entstanden. Allerdings ist dies beim Eindringen beziehungsweise beim Zusammentreffen der männlichen Keimzelle mit dem weiblichen Oozyt (reife Eizelle) nicht der Fall. Die Durchdringung (Penetration) der menschlichen Eizelle durch die Spermien ist ein energie- und zeitaufwendiger

Prozeß, welcher mehrere Stunden in Anspruch nimmt. Durch die Retortenbefruchtung ist man Zeuge dieses Prozesses geworden und kann damit ungefähr den Zeitablauf und die stufenweise Inkarnation beobachten.

Nach der Vereinigung und nach der Inkorporation der männlichen Spermien in die Eizelle — ein Zeitpunkt, der landläufig mit dem Begriff Menschwerdung verbunden wurde — bleiben die männli-

chen und die weiblichen Erbteile allerdings noch stundenlang getrennt: In den sogenannten Kernkörper chen kondensiert das gesamte genetische Material der Frau beziehungsweise des Mannes, und diese beiden Körnchen, welche die gesamte genetische Information des kommenden Individuums tragen, bleiben mehrere Stunden, manchmal bis zu einem halben Tag, nebeneinander liegen und nähern sich dann erst langsam an.

Die Verschmelzung der beiden Kernkörperchen bildet dann erst die eigentliche Vereinigung, in diesem Augenblick konjugieren das väterliche und das mütterliche Erbgut, man kann ab diesem Zeitpunkt mit einer gewissen Berechtigung von der Entstehung neuen Lebens sprechen.

Allerdings wird auch dieses Ereignis als Zeitpunkt der Entstehung menschlichen Lebens in Frage gestellt: Die Erbinformation der beiden Elternteile ist einem Computercode vergleichbar,

der nicht einfach dadurch entsteht, daß sich weiblicher und männlicher Chromosomensatz verbinden. Die elterlichen Erbanlagen formieren sich in einem komplexen Geschehen zum genetischen Code des neuen Menschen; auch dieses Formieren benötigt eine gewisse Zeit und beschränkt sich nicht darauf, daß väterliches und mütterliches Erbgut einfach zusammenfließen.

Daß nicht die Zusammenlegung der Gameten, sondern die neue Computerprogrammierung für die Entstehung des zukünftigen Menschen von Bedeutung ist, zeigt sich vor allem daraus, daß aus der befruchteten Eizelle neben einer normalen Schwangerschaft auch Zwillinge' oder eine Blasenmole (krankhafte Wucherung des Mutterkuchens) entstehen können. In den beiden letztgenannten Fällen war eben die Programmierung anders verlaufen als bei normalen Zygoten (aus Befruchtung hervorgegangene di-ploide—einen doppelten Chromosomensatz aufweisende — Zellen).

Der Zeitpunkt der Menschwerdung scheint also naturwissenschaftlich gesehen an jenem Punkt zu liegen, in dem die molekularbiologischen Veränderungen den von beiden Elternteilen stammenden genetischen Code so aufbereitet haben, daß dies den endgültigen Computerbauplan des Kindes darstellt.

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