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Das Denken der Primitiven

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Als vor ungefähr Jahresfrist mein Buch „Der Urmensch und sein Weltbild“ erschien, konnte ich darin unter anderem mitteilen, daß der Gelehrte Lucien Levy-Bruhl nun doch vor seinem 1939 erfolgten Tode die bekannte Lehre vom „prä- oder alogischen“ Denken der Primitiven formell widerrufen hat. Jetzt liegen seine „Retraktationen“, seine Widerrufe, im vollen Umfange vor, und zwar unter dem Titel „Les Carnets de Lucien Levy-Bruhl“. Diese „Bekehrung“, wenn man sie so nennen will, hat namentlich in westeuropäischen Kreisen großes Aufsehen erregt. Sie darf wohl auch bei uns mit dem Interesse weiterer Kreise rechnen. Lucien Levy-Bruhl veröffentlichte im Jahre 1910 sein Buch „Les fonctions mentales dans les societes inferieures“, von dem dann kein anderer als der Wiener Philosoph Professor W. Jerusalem eine Ubersetzung herausbrachte. Levy-Bruhl ließ fünf weitere Werke verwandten Inhaltes folgen. Sie alle erlebten zahlreiche Auflagen und Ubersetzungen in sämtlichen Kultursprachen der Welt. So strahlte von diesem Gelehrten ein selten großer geistesgeschichtlicher Einfluß aus, der auch heute noch weiterwirkt. Es sei als Beispiel hiefür auf das 1949 in Bern erschienene Buch „Von der Steinzeit zum Christentum“ von W. F. Albright hingewiesen. Es wird darin die von Levy-Bruhl vertretene These von dem „prälogischen und kollektiven Denken“ der sogenannten Primitiven als im wesentlichen richtig anerkannt, also d i e T h e s e, daß der ältere, primitive Mensch noch nicht die Fähigkeit logischen Denkens besessen habe, ihm habe auch jede eigentliche religiöse Denkvorstellung gefehlt. Dabei ist Albright zwar kein Ethnologe, aber ein im übrigen verdienter und angesehener Orientalist.

Levy-Bruhl lehrte seit 1899 Philosophie an der Sorbonne. 1939 starb er im hohen Alter von 82 Jahren. In den letzten dreizehn Monaten seines Lebens hatte er elf Notizbüchlein (Carnets) gefüllt mit Gedanken und Überlegungen, die offenbar als Material für ein neues Buch gedacht waren. Wohl an zehn Stellen kommt er darin auf seine ursprüngliche, zum erstenmal 1910 aufgestellte, Theorie vom „prälogischen“ Denken der Primitiven zu sprechen. Er betont dabei, daß die Kritik ihm schon früh und viel zu schaffen gemacht habe. Deren Berechtigung einsehend, habe er dann schon, etwa ab 1920, den Ausdruck „prälogisch“ nicht mehr gebraucht. Vor allem im ganzen profanen Leben denken — wie er nun einräumt — die Primitiven wie wir. Kein Zweifel auch, daß das Denken dieser Primitiven ein wirklich begriffliches Denken ist. Allein das Vorhandensein wohlausgebildeter Sprachen lege dafür ein eindeutiges Zeugnis ab, eine Tatsache, die er früher nicht genügend beachtet und gewürdigt habe.

Es ist klar, daß sich nun nach diesen ausdrücklichen Selbstkorrekturen niemand mehr auf Levy-Bruhl als Verkünder der Lehre von einem „prälogischen“ Denkstadium bei den Primitiven berufen kann. Es ist weiter klar, daß Levy-Bruhl im Grunde der Gewalt evidenter ethnologischer Tatsachen gewichen ist. Die Gewalt dieser Tatsachen muß eine entsprechend große gewesen sein, sonst hätte ein Mann wie Levy-Bruhl sich wohl kaum gebeugt. Respekt vor einem Gelehrten, der im gegebenen Falle solcher Rückzüge fähig ist! Er läßt, soweit ich sehe, die Frage unerörtert, wie es nun in dieser Hinsicht um den prähistorischen, vor allem um den altpaläolithischen Menschen bestellt war. Dieser kann natürlich

Presses Universitaires de France, Paris 1949. nicht mehr direkt beobachtet werden. Aber wir haben Geräte, Werkzeuge und Waffen, soweit sie aus erhaltbarem Stoffe (Stein, Knochen) hergestellt waren, die keinen anderen Schluß gestatten als den, daß auch deren Träger und Verfertiger volle und wirkliche Menschen waren. Unmöglich nämlich kann das Menschsein geteilt werden, etwa so, daß man zugeben wollte, jene altpaläolithischen Träger und Verfertiger von Werkzeugen und Geräten seien ini übrigen noch Wesen ohne Sprache, Familie und geistige Kultur gewesen. Das logische Denken ist also nichtnur denheutigenPri-mitiven allgemein eigen, sondern es muß auch die prähistorisch ältesten Menschen ausgezeichnet haben.

Lucien Levy-Bruhl selbst war nicht Ethnologe. Er verarbeitete nur ethnologischen Stoff. Angesichts vor allem seiner Theorie von dem „prälogischen“ Stadium bei den Primitiven schüttelten die Fach-ethnologen immer wieder den Kopf, im besonderen natürlich jene, die selbst unter Primitiven gelebt und gearbeitet haben. Diese Tatsache erklärt auch, daß Ethnologen für gewöhnlich sich nicht unter Levy-Bruhls Gefolgsleuten befanden. Die meisten von ihnen zählten und zählen zu seinen entschiedensten Gegnern, vorausgesetzt, daß sie es überhaupt für der Mühe wert hielten, den so seltsamen Theorien Levy-Bruhls ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Eine um so zahlreichere Anhängerschaft fand andererseits Levy-Bruhl bei Nichtethnologen, bei Psychologen, Psychoanalytikern, ja auch bei einigen Historikern, Philologen, Orientalisten usw. Mit Recht wurde erst kürzlich von ethnologischer Seite die Frage gestellt: „Wie bringt man nun die verkehrte, vom Autor selbst revozierte Lehre vom ,prälogischen' Denkstadium der Primitiven aus den Köpfen der Leute wieder heraus?“ —

Als Kind seiner Zeit hatte Levy-Bruhl nach der Jahrhundertwende die noch extrem evolutionistisch orientierte Ethnologie kennengelernt. Diesem ethnologischen Evolutionismus ist er, trotz der Zurücknahme der „prälogischen“ Theorie, im wesentlichen bis zu seinem Ende verhaftet geblieben. Wenn er auch den Primitiven ein logisches Denken in allen profanen und rationalen Angelegenheiten zugesteht, so meint er doch, daß sie, was das Gebiet des Irrationalen, des Zaubers, betrifft, uns, das heißt dem abendländischen Menschen, weit voraus beziehungsweise hinter ihm weit zurück seien. Man sieht hier sofort, wie Levy-Bruhl da mit den bekannten Zaubertheoretikern (King, Frazer usw.) geht, die den Ursprung der Religion aus irrationalen Unter- und Hintergründen heraus erklären wollen. Die bekannte Tatsache, daß gerade im Bereiche der ethnologischen Alt- und Ur-völker die Vorstellung eines höchsten Gottes und Schöpfers der Welt und der Menschen so weit verbreitet ist, nimmt jenen Theorien die wissenschaftliche Berechtigung. Aber auch abgesehen davon fragt man sich, warum Levy-Bruhl niemals die Frage erörtert, weshalb denn die Primitiven, die auch nach ihm in bezug auf alle profanen Angelegenheiten so gut logisch sich verhalten, hinsichtlich Religion und Weltanschauung sich von vorneherein so hoffnungslos unfähig erweisen müssen. Weshalb sollte ihnen zum Beispiel so unbedingt und absolut das Vermögen fehlen, von der Gesamtheit der ihnen bekannten Welttatsachen aus auf einen großen Herrn und Macher der Welt zu schließen?

So ist, wie man sieht, Levy-Bruhl, trotz der Rücknahme seiner ursprünglichen Lehre von dem „prälogischen“ Denken der Primitiven, schließlich doch auf halbem Weg stehengeblieben. Der Gewalt der Tatsachen, die sich mit jener Lehre nicht vereinbaren ließ, hat er im Grunde schon früh nachgegeben. Anders sein Verhalten den heute erkennbaren ältesten Formen der Religion gegenüber. Die Wolke von Zeugnissen, die wir seit Jahren hinsichtlich des Gottesglaubens speziell bei den primitivsten und ältesten Völkern der Erde besitzen, existiert für Levy-Bruhl anscheinend nicht. Es muß einfach, an diesem Eindruck kommt man nicht vorbei, der unpersönliche Zauber oder ähnliches am Anfang gestanden sein. Warum gerade auf religiösem Gebiete dieses fast krampfhafte und zähe Festhalten am alten extremen Evolutionismus, mit dem die heute bekannten religiösen Tatsachen am Ende doch ebensowenig in Einklang zu bringen sind, wie die Erscheinungen des Denkens bei den Primitiven mit der Lehre von ihrer Prälogik? Diese evidenten Tatbestände zwingen nicht nur zur Preisgabe eines anfänglichen „prälogischen“ Stadiums in der Menschheit, sondern schließen ebenso die Annahme einer „prä- oder areligiösen“ Urzeit aus. Warum also, so lautet die berechtigte Frage, dieses starre Festhalten an der „Präreligion“, wo die „Prälogik“, eingestandenermaßen, längst zusammengebrochen ist und daher hat aufgegeben werden müssen?

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