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Molotow und die Konservativen

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Der Sprachgebrauch unserer zeitgenössischen Publizistik hat das Wort konservativ noch einmal entdeckt. Er stellt es in einen ungewohnten Zusammenhang: Der alte Bolschewik Molotow, größter aller überlebenden Tatzeugen des Stalinismus, wird als Konservativer charakterisiert; die Methoden der früheren kommunistischen Kommandowirtschaft in der CSSR werden als konservativ den Neuerungen der Ära Alexander Dubcek gegenübergestellt; ganz allgemein wird konservativ als Negativum im Sinne von Erstarrung im Gewesenen, Rückschritt zu Überholtem und Unfähigkeit zur Aufgeschlossenheit gegenüber Tagesund Zukunftsaufgaben herausgestellt.

Gerade durch die letzte Charakterisierung wird der polemisch gefaßte Gegensatz ausgenützt und der Fortschritt an sich bereits als Wandlung zum Besseren empfohlen; jedenfalls als Charakteristikum der Jugendlichkeit, der Aufgeschlossenheit und als Chance des Erlebens einer künftigen, besseren Ordnung der Dinge.

„Die Welt der Enkel“

Ansichten wie die letztere, die den Konflikt der „Romantiker“ mit den Futuristen simplifizieren, sind in unseren Tagen nicht nur von theoretischer, sondern von enorm praktischer Bedeutung. Die Zwillingskräfte Fortschritt und Entwicklung werden so als die eigentlichen und allein brauchbaren Triebkräfte angesehen, deren es in der Zeitwende, die wir erleben (und die nach Ansicht vieler in Form einer Revolution geschehen müßte), bedarf. Wilhelm Röpke hat in einem seiner letzten Aufsätze beschrieben, wie man im Zeitalter der Technik und der Wissenschaft der Neigung verfällt, die „Welt der Enkel auszumalen“ und mit einer quasi-wissenschaftlichen Mentalität noch einmal den Wunschträumen und der Phantasie in zeitüblicher Fasson nachhängt. In dem steckt System und im System vor allem folgende zwei Gefahren:

• Jeder Wissenschaftler weiß, wo auf dem Felde wissenschaftlich legitimer Voraussagen jene Grenzen liegen, bis zu denen mit behutsamen Absicherungen nach allen Seiten die Kurven der Entwicklungserwartungen über die Gegenwart hinaus geführt werden können. Ein solches Wagnis ist in bestimmten Grenzen methodisch gerechtfertigt und für jede Lebensplanung notwendig. Die Gefahr entsteht hinter dem Punkt, an dem sich ein „visionärer Szientismus“ unmerklich vom Boden des wissenschaftlich Beweisbaren abhebt, ohne von sich aus den ferneren Anspruch auf eine legitime wissenschaftliche Prophezeiung abzulegen und sich als Ideologie erkennen zu geben.

• An diesem Punkt schlägt der visionäre Szientismus in eine Ideologie um; in eine Ideologie, die gefähr-

liehet ist als jede gepredigte Ideologie, weil sie verkappt ist und als Tarnkappe die Antiideologie der Wissenschaftlichkeit benützt.

Eine solche verkappte Ideologie hat der zeitgenössische Progressis- mus vielfach dort rezipiert und angewandt, wo er mit apodiktischer Sicherheit „wissenschaftliche“ Kriterien für die Entscheidungen des Handelns in der Öffentlichkeit anbietet, die „visionärer Szientismus“ sind. Die Polemik darüber ist noch kaum in Gang gekommen. Bevor dies geschieht, ist ein Wort darüber notwendig, was man in den Vorgesprächen die reaktionäre, die revolutionäre und die konservative Haltung nennt.

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