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Die Welt im Jahre 1984

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Zu zeigen, wie eine insgesamt in ein „Univers concentrationnaire“ Verwandelte Welt von morgen aussehen könnte, hat der britische Autor George Orwell n seinem Roman „1 9 8 4“ unternommen. Die mit dem zweiten Weltkrieg begonnene soziale Umwälzung in England selber, die Fortsetzung des kalten Krieges und die Theorie James Burnhams vom unmerklichen Vorsichgehen einer weltweiten „Revolution der Manager“ bilden die geistige Kulisse dieses jüngsten Zukunftsromans. Man wird sich vor seiner Gesamtheit dem Eindruck nicht entziehen können, daß er nach natürlicher Vernunft in seiner Struktur durchaus möglich wirkt und auch das Phantastisch-Zerrbildhafte dieser Welt in den Grenzen von heute aus absehbare Verwirklichung bleibt. Das ist das vielleicht seltsame Neue und gleichzeitig furditbar Eindringliche an dieser Utopie.

Die Welt der Erzählung scheint äußerlidi gegenüber heute zunächst nur wenig verändert: Es ist ein etwas baufällig gewordenes London mit überfüllten U-Bahnen und kriegsmäßiger Rationierung, in dessen Stadtbild da und dort ein paar neue Lücken klaffen. Es ist auch Krieg; allerdings währt er schon länger als 20 Jahre. Dieser Krieg zwischen den drei Superstaaten Ozeanien, Eurasien und Ostasien, in dem die Bündnisse übrigens von Zeit zu Zeit wechseln, ist völlig anders als einer der Weltkriege in der ersten Jahrhunderthälfte. Zwar gibt es noch Schlachten, Zerstörung, Plünderung, Gewalttaten und Mastsendeportationen in die Zwangsarbeit, aber all dies beschränkt sich hauptsächlich auf die umstrittenen Äquatorgebietc. Im Bereiche der Weltstaaten selber spürt die Bevölkerung, von ein paar Fernbomben abgesehen, von all dem nur eine würgende Knappheit aller Lebensgüter und eine endemisch gewordene, mit den Mitteln einer, dieses Namens erst wahrhaft würdigen totalen Propaganda wachgehaltene Kriegshysterie. Ein wirklicher Sinn dieses utopischen Krieges liegt vielmehr in der Beseitigung eines Problems der Güterverteilung. Ein anderer Zweck ist die Sicherung der Macht der herrschenden Schichten. Ihre die einzelnen Weltstaaten beherrschenden kollektiven Systeme unterscheiden sich im Grunde nur dem Namen nach. Der Bruderkampf des auf der ganzen Welt zum Siege gelangten Totalitarismus um die Weltmacht hat keine Entscheidung und ist eigentlich ein Schein-gefedit.

So teilt die Partei eines („Ingsoc“ genannten) „englischen Sozialismus“ in Ozeanien, die an heutige politische Bewegungen nur mehr durch Namensklang erinnert, mit ihren Rivalen in Eurasien und Ostasien die Technik der Massenbeherrschung. Weniger als zwei Prozent der Bevölkerung herrschen über den größeren Kreis einer „äußeren“ Partei, den Staat. Der Rest der Menschen bildet die „Proles“. Immer wieder waren in der Geschichte herrschende Schichten durch den gemeinsamen Angriff der Mittel- und Unter- . schichten gestürzt worden. Dies soll sich in Hinkunft nicht mehr wiederholen. Das Wesen der ganzen, neuen Gesellschaftsordnung besteht darin, daß sie niemals wieder gestürzt werden können soll!

Das Antlitz dieser Welt ist eine einzige dämonische Verzerrung. Eine absolute Wirklichkeit ist abgeschafft. Was wahr zu sein hat, bestimmt das Wahrheitsministerium, in dem die Wahrheit täglich neu festgelegt und alles andere mittels seines umfassenden Apparats über Zeit und Raum hin „richtiggestellt“ wird. Kein einziges gedrucktes Wort und Bild, das wider die jeweils neue Wahrheit zeugen könnte, bleibt erhalten. Ihre Anerkennung erzwingt der perfekte Terror, zu dem es nur eines an sich geringfügigen Ausbaues des Fernseh-und Abhörwesens bedurft hat. Die damit verbundene Allgegenwart einer Geheimpolizei hat eine private Sphäre im Leben des Einzelmenschen verschwinden lassen. Im Einklang damit hat auch das Gesetz aufgehört zu existieren. Es gibt nur mehr das einzige „Gedankenverbrechen“ jeglicher Art von Nichteinverstandenseins. Zu mehr kann es auch überhaupt nicht kommen. Seelisch nackt ist der einzelne dem übermächtigen Druck der Kriegspropaganda ausgeliefert, eingetaucht in die Flut ihrer Leistungsschlachten und Haßbewegungen. Sein neuer Circus Maximus sind die monatlichen öffentlidien Hinrichtungen der als Kriegsverbrecher verurteilten Gefangenen. Der „Zweiminutenhaß“-Kurz-film bildet als Pflichtveranstaltung der Parteimitglieder die tägliche Abreaktion aus der gelenkten Verdrängung alles Seelischen und zugleich seine Neubindung, denn alle Liebe hat ja nur mehr einen einzigen Gegenstand: das unheimlich suggestive Führerbildnis. Alle andere Liebe ist tot oder führt zum Tode. Neigungsehen sind längst aufgehoben, die Familie hat sich als Frucht der allesdurchdringenden Uber-wachung in eine Lebensgemeinschaft ohne seelische Bande verwandelt. Die Proles, die primitive Masse der Bevölkerung, unterliegt nicht dieser strengen Disziplin, aber nur, weil sie ihrer nicht bedarf. Sie ist „frei“ zwischen Schlaf, Arbeit und Sexus. Statt mit Ideologie und Propaganda wird sie von der Staatskultur mit Pornographie, Astrologie, Sensation und Spannung gefüttert. Wer geistiger Regung fähig ist, der ist ,n der Partei erfaßt und gerät ohnehin früher oder später unter die Räder der permanenten Säuberung. Das letzte Drama in dieser Welt ist die verzweifelte Liebe zweier Menschen zueinander. In Winston Smith, der innerlich nicht kapituliert hat, ist noch etwas wie ein schwaches inneres Verstehen einstiger menschlicher Ideale. Julia dagegen ist auch nach außenhin ganz Geschöpf der neuen Epoche. Nur der immense, zurückgestaute Lebenshunger einer jüngeren, völlig nihilistischen Generation bäumt sich in ihr auf. Notwendig steht der Untergang der beiden von vorhinein fest. Anscheinend gelingt es ihnen, sich dem Zugriff des Staatsmolochs eine Zeitlang zu entziehen. Später erst werden sie erfahren, daß sie in Wahrheit nichts anderes waren als „Studienobjekte“ der Geheimpolizei, deren Schöpfung selbst die imaginäre Widerstandsbewegung war, zu der sie gestoßen sind. Es sollte die beiden in ihrer „Schuld“ nur um so schuldiger machen. Dann erst erfahren sie auch das. wirkliche Geheimnis ihrer dämonischen Welt: ihre gelebte, unformulierte Geheimlehre.

Die Verkehrung aller Begriffe ist nur ein Teil an der fortschreitenden Verwirklichung der neuen, widergöttlichen Schöpfung. Ihr Frieden ist der Krieg. Die Geschehnisse im Menschenlaboratorium der Geheimpolizei bilden so das Opferritual der neuen Lehre.

Das ideologische Vokabular endlich enthält vor allem euphemistische Bezeichnungen, wie „Friedensministcrium“, reine Kürzungsworte nach dem Vorbild von „Gestapo“ oder „OKaWe“ und einige doppelsinnige Grundworte, deren Sinn mit der Anwendung auf den Gegner in sein Gegenteil umschlägt. In dieser neusprachlichen Zwangsjacke des geistigen Todes wird der Horizont des Denkens schrittweise eingeengt, bis das allgemeine Ende menschlicher Geschichte da ist.

Es bleibt nur zu vermerken, daß Orwells „1984“ kaum eine Anspielung auf Gott und Christentum enthält. Glaube und Religion sind in dieser seiner Utopie längst entschwundene und beinahe schon vergessene Dinge. Es ist einsichtig, daß ihm an der Auseinandersetzung damit nicht nur vielleicht gar nicht gelegen, sondern daß sie auch nicht möglich war, weil 6ie mit der leisesten Andeutung den Rahmen seiner Bilderwelt hätte sprengen müssen. Und so bleibt „1984“ trotz allem — eine Utopie.

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