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Gemeinsame Vorväter

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Hier soll nicht weiter von den kommunistischen Sekten des Mittelalters die Rede sein, sondern von den Theologen John Wiclif in England (1328 bis 1384), Jan Hus in Böhmen (1369 bis 1415), Thomas Münzer in Deutschland (1490 bis 1525) u. a.; aber auch von den Kirchenreformatoren der Neuzeit, wenigstens von Teilen ihrer neuen Lehre. Sie alle werden in den modernen Handbüchern des Sozialismus als dessen verehrungswürdige Vorväter herausgestellt; und sie sind in den Augen der Linkskatholiken die wahren christlichen Märtyrer der „finsteren Jahrhunderte“, die im Kampf für die Wahrheit und die Vernunft gegen das kirchliche establishment fallen mußten, bevor in unserer Zeit dieses establishment erschüttert werden konnte. Jenes establishment, das die Kirche der Reihe nach zur Bundesgenossin der Monarchie, des Kapitalismus und der jetzigen „Privilegiendemokratie“ gemacht hat. Die Linkskatholiken fangen an, die Kirchengeschichte umzuschreiben:

• Auf den früheren Irrwegen der Kirche konnte die etablierte äußere Ordnung mit der Unterdrückung der Waldenser, Hussiten, Wiedertäufer usw. den Sieg der Wahrheit und der Vernunft eine Zeitlang aufhalten.

• In unserer Zeit bekommt die einmal unterdrückte Wahrheit recht und die Resistance ihren Sinn. Linkskatholiken und Marxisten aller Schattierungen reflektieren jetzt auf geistige Vorväter, die ihnen gemeinsam sind. Dieses Infiltrat der Linken wird im Protestantismus aus verständlichen Gründen noch viel stärker spürbar. Mehr und mehr wird in den Beratungen des Weltrates der Kirchen das ■ sozial-revolutionäre Zeitmotiv der Generalbaß der Instrumentation und der Stimmlage aller Gespräche; die religiös-kirchlichen Anliegen werden zeitweise im Massenchor eines neuartigen Polit-christentums fast unhörbar. Im Gespräch der Katholiken ist es zuweilen unklar, ob die ehrende Erwähnung John Wiclifs auf die gleichzeitigen großen Bauernaufstände in England reflektiert oder auf den Anhänger einer von Rom unabhängigen Kirche und auf den Gegner des Zölibats und der Ohrenbeichte. Auch Jan Hus ist zugleich im Gespräch als Vorkämpfer einer tschechischen Volksbewegung im nationalen und Klassenkampf gegen die deutsche Oberschicht seiner Zeit und in Erinnerung an den Laienkelch, an sein Aufbegehren gegen die Autorität des Papstes, an die Anwaltschaft für apostolische Armut und egalitäre Brüderlichkeit statt hierarchischer Ordnung.

Und schließlich ist Thomas Münzer zugleich kommunistischer Agitator im Reformjationszeitaiter, Organisator der ersten „Kommune“ und Erneuerer der Gottesdienstordnung, Anwalt der Vielen gegen die Autorität der Wenigen.

Die konsequenten Verfechter eines Linkskatholiaismus sagen: Da ist kein Unterschied; eines gehört zum anderen; die kirchliche Erneuerung reflektiert auf den sozialen Umsturz im Unterbau; damals wie heute. Andere „Progressivsten“ lehnen die Sachinhalte des Linsdenkens ab und reklamieren nur „links als Methode“ im Sinne von Zukunftsgläubigkeit, Fortschrittsfreude, Mut zum schöpferischen Wagnis anstatt Verhaftung in der Vergangenheit, Angst vor dem Neuen, trägem Verharren. Jeder Fortschritt, der nicht im Geiste der Linken geschieht, wird als „tolaßrosa“ genauso diskriminiert wie die katholische Sozialiiehre, wo diese nicht der monumentalen Geistigkeit des Marxismus folgt.

So erleben wir heute im Linkskatholizismus einen der großen ricorsi des Unglaubens, die mit dem Aufbegehren gegen die kirchliche Autorität anfangen, in weiterer Folge die Transzendenz ausklammern und die Immanenz verabsolutieren, um zuletzt meistens in Deismus und Atheismus, fern jeder Offenbarungsreligion, zu münden. Lenin beschreibt in einem 1913 erschienenen Aufsatz folgende drei Quellen und Bestandteile des Marxismus: Die deutsche Philosophie, die englische politische Ökonomie, den französischen Sozialismus. Die heutige Sowjetideologie geht bei der Darstellung und Unterteilung der marxistischen Theorie auf diese Leninsche Einteilung zurück. Das im Westen entwickelte Industriesystem der Technokraten reflektiert seinerseits auf einen Vorläufer, der in demselben geistigen Wurzelboden herangewachsen ist: Francis Bacon (1561 bis 1626), Stammvater einer technokratischen Utopie und einer optimistischen Erwartung durch technische Produktionssteigerung. In seinen „Aphorismen“ aus 1620 deckt Bacon einen anderen Strang seines Rationalismus auf, in dem er die „Idole des menschlichen Geistes“ von den „Ideen des göttlichen Geistes“ unterscheidet; er versteht darunter einerseits „leere Bestimmungen“ und anderseits „wahre Kennzeichen und Merkmale“, wie letztere an den Schöpfungswer-ken in der Natur aufgefunden werden.

Die geistige Koinzidenzebene des Leninismus nd der Technokratie beginnt dort, wo im Aufklärungszeitalter die Offenbarungsreligion abgewertet wird; wo sie als „Idol des menschlichen“ diskriminiert wird (Deismus); wo sie als „Aberglaube und Obskurantismus, als Priesterbetrug und Unterjochung“ der Verachtung der Gebildeten preisgegeben wird.

Auf dieser Koinzidenzebene steht zum Beispiel heute das in deutscher Sprache erscheinende Wochenblatt für die Masse „Der Spiegel“: Antireligiös unter dem Image des Antiklerikalismus; marxistisch im Punkt des Aggiornamento zur Neuen Linken; nihilistisch im Kotau vor dem Industriesystem. Eine publikumswirksame Dokumentation der Linken, getragen von den Inseraten und Lesern aus den Kreisen des Luxuskonsums des Industriesystems der sogenannten freien Welt des Westens.

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