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Sturm auf die Gesellschaft

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AUFSTAND IN FRANKREICH. Von Henri Lefebjre. Zur Theorie der Revolution in hochindustriealisierten Ländern. Voltaire Handbuch 7, Berlin und Frankfurt, 144 Seiten. DM 5.80.

Als intellektuelles Poster-Shop ist in Berlin die Edition Voltaire entstanden. Ihr Verlagsprogramm versteht sich als Theorie der außerparlamentarischen Revolution und der Neuen Linken.

So fehlt natürlich nicht eine Definitionsversuchung der Mairevolte in Frankreich: Autor: Henri Lefebvre. Und worunter engagierte Darstellungen so spektakulärer Vorgänge primär zu leiden haben, dokumentiert auch dieser Band: Engagement und Theoretisierung vielfältiger Vorgänge macht blind und verformt Ausmaß und Größenordnung des Vorgefallenen. Der zur Gewalt gedrängte Versuch einer studentischen Minderheit Frankreichs wurde ja nur durch die Massenmedien einer schreienden Sensationspresse zum „Aufstand“ — an den sich Unzufriedenheit und soziale Disproportion im gaullistischen Frankreich anhängten und der zum innerpolitischen Manöverzug der Feinde des Generals wurde. Daß das Frankreich von 1968 der einzig mögliche Nährboden einer Bewegung wurde, die außer einer kleinen studentischen Minderheit auch die Arbeiterschaft erfaßte, haben inzwischen alle weiteren Kommunikationsversuche der Linken demonstriert.

Lefebvre legt allerdings glänzend in der Sprache des von ihm abgelehnten Scientismus dar, wie die Ströme verliefen und welche nachträgliche Theorie man den Ereignissen unterlegen kann. Er stellt klar, daß die Studenten von einer „revolutionären Romantik“ erfüllt waren, die bereits durch das unerfüllte Stadium des Pop gegangen war und sich politisierte.

Lefebvre sieht im Bedürfnis nach Ideologie einen wesentlichen Grund der linksstudentischen Bewegung. Der Marxismus hat mit seinen grundlegenden Axiomen recht und die Klassengesellschaft ist erhalten geblieben. Allerdings modifiziert: so sieht er in Frankreich die Gruppen der „Altertümelnden“, der „Modernisten“ (mit ihrer Symbolflgur Ser-van-Schreiber) und der „Possibilisten“, die sich „für mehr interessieren als für die Wirklichkeit“. In den ersten zwei Gruppen manifestiert sich primär die Gruppe der „Ausbeuter“, die aber über den ursprünglichen Rahmen der Marx'schen Deutung hinausgewachsen ist. Der „Apparat“ ist es, über den es Herrscher gibt und Beherrschte. Und diejenigen, die Apparate beherrschen, sind die Bourgeoisie des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts. Mar-cuse hat diese Zusammenhänge (vor allem auch auf Freud aufbauend) ursprünglich im Sinn einer revolutionären Theorie erhellt, hat sich später aber — so Lefebvre — der „Wissenschaftlichkeit“ ergeben und zerlegt ebenso das Skelett von Marx, um es nach eigener Vorstellung wieder zusammenzustellen. Was aber die revolutionäre Krise in Wirklichkeit heraufbeschwor, war die zunehmende Komplizierung der Gesellschaft, ohne Konflikte lösen zu können.

Und so ist die Studentenrevolte einer kleinen akademischen Minderheit (auch wenn das nicht ausgesprochen wird) in Wirklichkeit auch in Frankreich nichts anderes gewesen als der wahrscheinlich letzte Aufstand des Idealismus gegen die Computergesellschaft anonymer Herrschaften, ein Maschinensturm mit den ideolor gischen Rechtfertigungsversuchen des alten Marx, aufgeputzt mit ein wenig Mao, Castro und Che Guevara.

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