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Die „Zweihundert Familien“

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In einem jener unvergeßlichen Filme, die unter burlesken Gags ine scharfe Kritik gesellschaftlicher Zustände bergen, beginnt der scheinbar ernsthafteste der Marx Brothers mit wichtiger Miene die „Oberen Vierhundert“ abzuzählen, die sich — Statistengage pro Kopf zehn Dollar — in Frack und Abendtoilette zu einem glänzenden Empfang eingefunden haben. Sind sie auch wirklich alle da, die vitlverlästerten, vielbeneideten, vielbewunderten und vielmillionen-reichen Upper Fourhundred? Etwa zur gleichen Zeit haben die weniger vergnüglichen Marx-Brüder in Frankreich die „Zweihundert Familien'' (oder auch den „Mur d'argent“, die „Geldmauer) dem öffentlichen Haß zum bevorzugten Gegenstand und als zu vcr. jagende Sündenböcke dargeboten, die sich durch List und Gewalt zu Gärtnern des sonst blühenden und nun ach so verwahrlosten Parks Frankreich gemacht hätten. Wit wollen nicht die schnurrbärtigen Marx von westlich des Atlantik nachahmen und wir verzichten also, die Zweihundert nachzuzählen, die nach der Lesart der Schüler des langbärtigen Marx von östlich des Eisernen Vorhang an allem Unglück der Dritten und Vierten Republik Schuld tragen. Eines wird man indessen der klassenkämpferischen Geschichtsklitterung zugestehen: eine Oligarchie, die auf bedeutendem Reichtum gründet, die mit seiner Hilfe zu hohen und höchsten Aemtetn des Landes gelangt ist, die in den gesetzgebenden Versammlungen das entscheidende Wort führt und die an die Stelle der einstigen noblesse d'epce, de robe und der Reste des großen Feudaladels getreten ist — nachdem sie sich mit der Hocharistokratie, dem Schwertadel und dem Amtsadel durch zahlreiche Heiraten verbunden hat —, eine relativ geringe Auslese von Familien hält in Frankreich seit der Revolution und dem ersten Kaiserreich das Heft in der Hand. Wir vermögen, angesichts der beklagenswerten Vernachlässigung dieses so wichtigen Problems durch die zünftige und um ihre demokratische Reinheit besorgte Geschichtsschreibung, nicht zu sagen, ob es sich dabei um tausend, um zweitausend oder um fünftausend Geschlechter handelt: jedenfalls sind ihrer weit mehr als die aus Propa-gandarücklichten mit nur zweihundert bezifferten Säulen des „Mur d'argent“. Der Baron de Woel-mont hat in einem, den Unzünftigen kaum bekannten, vorzüglichen Werk ein Inventar des französischen Adels aufgestellt. Für die Großbourgeoisie fehlt ein derartiges Repertorium. Das umfängliche, beim 29. Band steckengebliebene Lexikon von Chaix d'Est-Ange, „Dictionnaire des Familles francaises“, ist nur bis zum Buchstaben G gediehen und bringt nebeneinander Adel wie Bürgertum. Sodann, während es für die Zugehörigkeit zum Adel einwandfreie juridische Kriterien gemäß dem Recht des Ancien Regime gibt, bleibt die Grenze, die den oberen Bürgerstand von der mittleren Bourgeoisie wie von Kleinbürgern und Bauern trennt, fließend. Delavenne hat nun, darin liegt ein ernstes Verdienst seines grandiosen Werkes, diese Scheidelinie zu ziehen versucht, und zwar nach dem einzig zulässigen, soziologischen Maßstab. Großbürgerlich ist für den Autor ein Geschlecht, das mehrere Generationen hindurch in sehr guten Vermögensverhältnissen und in gehobener Position lebt. Dabei hat er mühelos rund 280 Familien zusammengebracht, deren Angehörige in der Politik, als hohe Beamte und Diplomaten, als Heerführer, als führende Industrielle und Bankiers, als Gelehrte und als Schriftsteller eine Rolle gespielt haben und sie noch spielen. Schon auf den ersten Blick sieht man, daß diese Sammlung von Stammtafeln keineswegs vollständig ist: sie will es auch nicht sein. So treffen wir denn weder die „familles consulaires“, die Diplomatengeschlechter der Cambon und Berthelot, noch die Poincare, Caillaux und Gide, weder die Hottinguer und Schneider noch die Lebaudy und Fabre-Luce, weder die Baudrillirt und Hachette noch die Schlumberger, Doli fuß und Koechlin. Sie alle werden uns hoffentlich in künftigen Bänden begegnen. Doch für das, was wir schon im vorliegenden ersten Band erhalten haben, gebührt Delavenne der aufrichtigste Dank. Bereits jetzt ist uns ein Ueberblick über die Grundlinien des ungeschriebenen Systems möglich, das weit mehr als die papierene Verfassung für die innere und äußere Politik Frankreichs Belang hat.

Die auf Verfügung über Finanzkapital und Produktionsmittel der Großindustrie sich stützende obere Bourgeoisie in Paris und in den Provinzen hat zwischen 1790 und 1800 die Macht fest in die Hände genommen. Das militärische Abenteuer des ersten Kaiserreichs ist teils Fassade, hinter der sich die Wirtschaftsinteressen der neuen Reichen und der wenigen Reichgebliebenen aus der alten Gesellschaft geltend machen — wie im tödlichen Gegensatz zum Konkurrenten England, welche Rivalität den Zusammenbruch Napoleons I. herbeiführt —. teils Episode, an deren Stelle, nach einem neuen Zwischenspiel der Restauration, seit 1830, zuerst unter dem Julikönigtum, hernach unter dem zweiten Kaiserreich und in der Dritten, der Vierten Republik die durch keinen Gesetzestext ausgedrückte Herrschaft der Großbourgeoisie tritt. Es ist bezeichnend, daß sogar die Führer der antikapitalistischen

Parteien, daß streitbare Klassenkampf-Schriftsteller ihrerseits, als „verlorene Söhne“, der regierenden Schicht entstammen, gleich den einstigen Weg. bereitem der Empörung wider das Ancien Regime, den Magnaten Mirabcau und La Payette, gleich den berühmtesten Machthabern der Revolution, den Kleinadeligen Robespierre und Buonaparte. Jaurcs, Leon Blum. Pierre Cot hätten mit ihren Familien in den Recueil Delavennes hineinkommen können; der flammende Jean-Pieire Herve-Bazin, wie Cot aus streng katholischem Provinzpatriziat, ist in unserem Werk mit allen seinen höchst unproletarischen Ahnen zu finden. Doch uns interessieren weniger die Ausnahmen, die freaks, als die geschlossene Phalanx der normalen affreux bourgeois, die, je nachdem langsamer oder schneller, den typischen Weg vom Taglöhner (journalier) oder Kleinbauern (laboureur) über das städtische Handwetkertum zum industriellen Unternehmer, zum Bankherrn oder auch zum Advokaten, zum Notar, zum Staatsbeamten und weiter zum Parlamentarier und Minister, zum Botschafter und Marschall nehmen, wenn sie nicht zur Gelehrsamkeit oder in die Literatur abschwenken. Manchmal dauert ein derartiger Prozeß zwei Jahrhunderte. Manchmal genügen drei Generationen, um — wie bei den Zuckerkönigen Sommier — den Sprung vom Bäckergeschäft einer Kleinstadt ins Prunkschloß des berühmt-berüchtigten Finanzgewaltigen aus Ludwigs XIV. Tagen, des Intendanten Fouquet. zu machen. Erstaunlich und von bewundernswerter Konsequenz ist der echt französische Sinn fürs Maßhalten, der sich im Vermeiden vorschneller Großmannssucht bekundet. Solange nicht der Aufstieg einer Familie finanziell aufs festeste gesichert ist, heiratet man unter sich in Bürgerkreise ähnlicher Wirtschaftslage. Erst wenn ein Schicksalsliebling nicht nur auf einein aus reichlichem Ueberschuß gekauften Schloß sitzt und dazu auf ein paar Gold-millionen, trachtet er, die Hand einer Vornehmen zu gewinnen oder, weit öfter, Sohn und Tochter mit Sprossen des Adels oder der längst arrivierten Großbourgeoisie zu vermählen. Bemerkenswert ferner die löbliche Neigung, materielle Unabhängigkeit als Basis für öffentliches Wirken oder für gelehrte, literarische Tätigkeit zu benutzen.

Der Historiker, der Politiker, der Soziologe sind, im Hinblick auf das vor ihnen ausgebreitete mannigfache Material, des Lobes voll über ein Buch, zu dem der Herzog von Brissac ein funkelndes, witziges Vorwort geschrieben hat — er stammt selbst durch die weiblichen Vorfahren von zwei der bei Delavenne genannten Bürgergeschlechtern. — Der Genealoge aber macht einige Vorbehalte. Nicht etwa gegen die. wie Stichproben zeigten, hohe Zuverlässigkeit der Veröffentlichung, sondern gegen manche Unzulänglichkeiten der Quellenerforschung. So ist unbegreiflich, daß die Mütter General de Gaulles und Maurice Barres' als unbekannt erscheinen: Cattaui bringt in seiner Biographie de Gaulles die Achtahnentafel des Generals, über Bartes' Muttergeschlecht steht Eingehendes in mehreren Schriften. Doch derlei Einzelheiten sind bei einer Gesamtleistung unwesentlich, deren Hauptbedeutung nicht im rein Genealogischen liegt. Hier haben wir eine Anatomie der „Personne France“, eine Röntgenanalyse, die den wahren Zustand der inneren Organe des sozialen Körpers dieses Landes enthüllt und die klar die Triebfedern des politischen Lebens Frankreichs bestrahlt. Einem großen Vorhaben ist schönes Gelingen besebieden worden. Dafür seien Andre Delavenne und der Verlag gepriesen.

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